21. Jahrgang | Nummer 21 | 8. Oktober 2018

Zu sehr

von Jörn Schütrumpf

Wir haben uns „zu sehr mit uns selbst beschäftigt“, meinte – nach der Pleite Maaßen und vor der Pleite Kauder – nicht der Vorbeter einer Selbstfindungsgruppe, sondern eine Bundeskanzlerin allen Ernstes. Weder Konrad Adenauer noch Willy Brandt, ja nicht einmal einem Helmut Kohl wäre ein solcher Satz in den Sinn, geschweige denn über die Lippen gekommen – wussten die doch noch, warum sie in die Politik gegangen waren: keiner von ihnen, um sich mit sich selbst zu beschäftigen, „zu sehr“ ohnehin nicht.
Dass von den Steuerzahlern das Politikpersonal nicht um seiner selbst willen, sondern für das Funktionieren einer Gesellschaft unter bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen am Leben erhalten wird – und das keineswegs unauskömmlich –, hat man im heutigen Politikbetrieb, wie es aussieht, nicht etwa vergessen; man hat es nie gewusst. Und nicht nur dort: Die Selbstverständlichkeit, mit der der Angela-Merkel-Satz in den Medien goutiert wurde, bietet auch dem Letzten die Chance zu begreifen, wo die politische Kultur angelangt ist.
Schon in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre kündigte sich in der Politik – weitgehend unabhängig von ’68 – der Bruch mit der Nachkriegszeit an; 1988 vollendete ihn der Tod des (ohne Zweifel ab einem frühen Zeitpunkt hoch zweifelhaften) Franz Josef Strauß. Damals trat eine Politikergeneration ab, die – keineswegs nur in ihren Spitzen – vor allem aus Menschen gespeist worden war, die ohne Nationalsozialismus, Krieg und alliierte Besatzung wahrscheinlich einem „anständigen Beruf“ nachgegangen wären und sich darüber hätten gut finanzieren können. Wie unterschiedlich ihre Antworten im Einzelnen auch gewesen sein mögen, ein „Nie wieder!“ (und nicht etwa ein „Versorget mich!“) war ihnen fast allen gemeinsam.
Den Fährnissen einer Wahl, sei es in ein Parteiamt, sei es in parlamentarische Würden, setzen sich seit vierzig Jahren zunehmend nur noch Menschen aus, die außerhalb der Politik nie eine Chance hätten, auch nur ein einigermaßen vergleichbares Einkommen zu erzielen. Haltung ist von der Wiederwahl besiegt, die Kunst des Möglichen längst einer angstgesteuerten Überlebensathletik gewichen.
Die CSU, kurz davor bundesweit unter die Fünfprozentmarke und damit – abgesehen von den Direktmandaten – bei der nächsten Bundestagswahl aus dem Bundestag zu rutschen, steht vor dem größten Showdown ihrer Geschichte. Horst Seehofer hat lediglich den Kammerton vorgegeben. Der wird noch zu hören sein, wenn die Gnade des Vergessens Seehofers Bild längst wieder aufgehellt hat.
Doch: Es sind nicht nur den Politikern die Politik und den Medien die Maßstäbe abhanden gekommen. Durch die neoliberale Großoffensive der vergangenen dreißig Jahre ist auch die zivilgesellschaftliche Gegenmacht zerstäubt. Einst getragen von den stärksten Organisationen, den Gewerkschaften, die via SPD in den politischen Raum wirkten, haben sich nach der – bis heute nicht erledigten – Schröderisierung der Sozialdemokratie diese Organisationen in eine Klientelpolitik zurückzogen. Auf den strategisch geführten Klassenkampf „von oben“ antworten die Gewerkschaften lediglich noch mit Lohnkämpfen…
Das Tor zur Gesellschaft haben beide, das Absterben gesellschaftlicher Gegenmacht wie eine „Politik“ der Selbstversorgung, einem Faschismus geöffnet, der es interessanterweise nicht einmal nötig hat, sich zu „modernisieren“. Die ganze alte Dumpfheit wird salonfähig; selbst der Antisemitismus kehrt zurück, vorläufig noch auf Socken und nicht schon im genagelten Stiefel.
Zweifellos sind verschiedene Szenarien denkbar. In allen wird aber eines zu berücksichtigen sein: Aus der CDU ist die – nach 1945 ebenso wichtige wie Erfolg spendende – Fähigkeit, auf der rechten Seite zu integrieren, heraustaktiert worden. Immer wahrscheinlicher wird, dass – zumindest mittelfristig – die Bayern-CSU in die Bresche springt, indem sie mit einer bundesweiten Ausdehnung die Flucht nach vorn antritt: nicht nur um sich der gegenseitigen babylonischen Gefangenschaft einer Fraktionsgemeinschaft zu entwinden, sondern natürlich vor allem um der AfD das Wasser abzugraben. Hier käme Frau Petry zurück ins Spiel.
Eine am 14. Oktober vom bayrischen Wähler chaotisierte, irgendwann danach aus der Bundesregierung scheidende CSU würde zwar – so zumindest seriös anmutende Schätzungen – etwa 15 Prozent der Stimmen an eine zu gründende Bayern-CDU verlieren, im „restlichen“ Bundesgebiet aber deutlich zulegen, wenn auch der in die Mitte gerückten CDU kaum Wähler abjagen können. Das hat schon die AfD getan. Dort gälte es zu wildern und, bei Erfolg, sich so langfristig den Einfluss auf die Bundespolitik zu sichern. Die Alternative wäre, in Bayern weiter auszubluten. – Soweit ist es mit der parlamentarischen Demokratie schon gekommen, dass man anfängt, sich die Weiterexistenz einer CSU zu wünschen!
Augenblicklich sitzt diese Partei noch mit 6,2 Prozent der Stimmen im Bundestag (2013: 7,4 Prozent). Eine von der CSU verlassene CDU könnte, selbst wenn sie einige zusätzliche Prozente an die CSU verlöre, den Verlust leicht durch die regierungswilligen Grünen kompensieren und so – nebenher – die Politik wieder politisieren.
Angela Merkel wird das natürlich nicht mehr tun. Die ist mit sich selbst beschäftigt, wenn auch nicht mehr „zu sehr“.