von Stephan Jakubowski
„Konservativismus ist der Sammelbegriff
für politische und geistige soziale Bewegungen, die die Bewahrung
der bestehenden oder die Wiederherstellung von früheren
gesellschaftlichen Ordnungen zum Ziel haben.“(Wikipedia)
Dieses Zitat fasst den Kern des Konservativismus gut zusammen. Damit fungiert dieser als Gegenüberstellung zu progressiven Gesellschaftsentwicklungen. Auf was aber bezieht sich dieses allgemeine Verständnis vom Konservativismus? Was genau soll erhalten bleiben? Zumeist wird sich hier auf „bessere Zeiten“ in einer nicht genauer benannten Vergangenheit bezogen. Doch wann waren diese Zeiten und was genau war besser? Die Beantwortung dieser Fragen mit Fakten und über eine vulgär-emotionale Verklärung erhaben, bleiben Vertreter dieser Fraktion zumeist schuldig. Stattdessen wird sich lieber eines sehr deutschen Stilmittels bedient – entgegen der tatsächlichen eigenen Rolle bei der Gestaltung politischer wie gesellschaftlicher Prozesse, macht man sich allzu gern zum Opfer.
Die „Links-grün-versiffte-68er-Eliten-Meinungsdiktatur“ ist ein karikatureskes Schlagwort zu Zeiten eines europäischen Rechtsrucks, das progressive Entwürfe zur Gleichberechtigung von Frauen, von migrantischen oder nicht-christlichen Religionsgemeinschaften, antikapitalistische Utopieansätze oder gar Menschen außerhalb heteronormativer Sexualdefinitionen als Erosion, als giftigen Rost an den Pfeilern der hiesigen Wertegemeinschaft und als Angriff auf die eigene (konservative) Identität versteht.
In den ersten drei Texten des Blättchens vom 10. September wurde sich in ungewöhnlich starker Intensität für konservative Positionen und deren vermeintliche Bedeutung für eine funktionierende und stabile Demokratie ausgesprochen. Was stimmt ist, dass es ohne Debatte und konstruktiven Streit innerhalb eines gleichermaßen verstandenen demokratischen Rahmens nicht geht. Dieser selbst scheint aber rissig zu sein und ob zumindest der Spitze der parlamentarischen Konservativen an diesem Konsens derzeit viel gelegen ist, darf bezweifelt werden. Es schockiert hier der Text von Heino Bosselmann, der der AfD bescheinigt, eine Bereicherung zur politischen Debatte innerhalb einer verfahrenen Demokratie zu sein. Weiter wird sich zu Recht über den indifferenten und inflationär eingesetzen Begriff „Nazi“ beschwert und doch selbst jede Menge polemisiert, vereinfacht und ein vermeintlich übergewichtiges linkes Anti-Rechtsbündnis als substanzlos diffamiert. Er spricht auch sehr richtige Punkte an, doch wirkt er insgesamt, als argumentiere er aus der Perspektive der Besorgtbürger, denen man im besten Fall vorwerfen muss, sich die wenigen moderaten Positionen der AfD herauszupicken und sie darüber zu positivieren. Das aber bedingt ein Ignorieren gegenüber der fortlaufend stärker in den Fokus rückenden völkischen Agenda von Radikalen wie Höcke, Poggenburg oder Gauland.
Viel schlimmer aber ignoriert dies völlig die Agitation von AfD und ihr naher Vertreter in sozialen Netzwerken, wo sich eine Verrohung etabliert hat, die aktiv den Anschluss zur radikalen und extremistischen Rechten sucht und letztlich in Chemnitz oder Köthen auch auf der Straße praktiziert hat. Wer dies nicht in die eigene Betrachtung einbezieht und gleichzeitig eine vermeintliche Verschwörung gegenüber allem rechts von der Mitte vermutet, muss sich schon überlegen, ob man politisch wirklich noch am rechten Rand selbiger Mitte steht.
Hier knüpft die Frage an, was Konservativismus heutzutage denn nun bedeutet und wofür dessen Vertreter stehen. Schauen wir uns doch mal die Riege der (zumindest teilweise) modernen Konservativen von Lindner über Spahn bis zu Dobrindt und Seehofer an: Es wird sich im Text von Bosselmann beschwert, dass diese bisweilen als „Nazi“ verunglimpft werden und damit vermeintlich aus dem Feld des demokratischen Diskurses verdrängt werden sollen. Ist das denn wirklich so? Lassen sich Spitzenpolitiker durch eine außerparlamentarische Einschätzung, die in ihrer tatsächlichen Indifferenz keinerlei Auswirkung auf Wahlentscheidungen zu haben scheint, aus irgendwas herausdrängen? Laut aktueller Sonntagsfrage ist die CDU weiter stärkste Kraft im Land. Die Realität schafft hier also eindeutige Fakten.
Und wer von der Wichtigkeit der Rechten und Konservativen für den politischen Prozess und einer daraus resultierenden Stabilität im Lande sprechen will, der darf von Polizeiaufgabengesetzen und deren undemokratischer Implementierung entgegen aller Widerstände wie in Bayern oder Seehofers ausschließlich aus Männern bestehendem Führungsteam oder Dobrindts Aufruf zur Konservativen Revolution nicht schweigen. Der Konservativismus, der derzeit sogenannte Ankerzentren, Polizeiaufgabengesetze, mehr Überwachung, Obergrenzen für Flucht und Asyl, Leitkulturdebatten zum Erhalt der deutschen Kultur oder den Schwachsinn von „der Mutter aller Probleme“ schafft, grenzt nicht nur wissentlich Minderheiten aus und schneidet diese bei einer emanzipierten politischen Teilhabe auf Augenhöhe.
Ihm fehlte damals wie heute die klare Abgrenzung zur radikalen Rechten. Hier trifft sich auch das gemeinsame Wunschbild vom starken Staat und einer harten, restriktiven Law-and-Order-Politik, die dem eigenen Volk zwar das Marschieren lässt, es aber nicht als Subjekt innerhalb politischer Partizipation behandelt. Demokratie „von unten“ neu zu gestalten beißt sich mit rechter Ideologie. Hier mehr Impulse als von der politischen Linken zu verlangen ist hoffentlich nur ein missverständlich ausgedrückter Weckruf in Richtung des konservativen Lagers, endlich mal wieder eine konstruktive Agenda auf den Tisch zu legen, die über einen Wettstreit mit der AfD um den radikalsten Populismus hinaus geht. Denn wo uns die immerfort propagierten Werte von Nation, Tradition und (Leit-)Kultur hinbringen, zeigt sich eindrucksvoll an der wesentlichen Rolle der parlamentarischen Konservativen, die sich großartig darauf verstehen, den parlamentarischen Rechtsradikalen der AfD und deren Straßenbewegung den Weg zu asphaltieren.
Auch die Betrachtung des aktuellen gesellschaftlich-politischen Rahmens zeigt doch, dass entgegen der sehr nah am populistischen Sprech der AfD artikulierten „Meinungsdiktatur“ keine Deutungshoheit „linker Eliten“ existiert: Kommt es zu rechten Ausschreitungen, melden sich sofort Experten wie der Chefredakteur der WELT oder Extremismusforscher wie Eckardt Jesse mit erhobenem Zeigefinger, dass doch nur der linke Extremismus nicht vergessen werden solle und zerren haarsträubende Vergleiche heran. Der Konstrukteur der zu Recht stark kritisierten Hufeisentheorie war übrigens lange Zeit Berater der sächsischen Landesregierung (CDU) und hat seinen Beitrag zur Herabspielung rechter Tendenzen im Land geleistet.
Bei Fleischhauer im Spiegel schließt sich dann der Kreis in einem halbseitigen Artikel: Der moderne Konservative sieht im Blick zurück die Antworten auf die inhaltlichen und strukturellen Probleme der heutigen politischen Konservativen und bekräftigt diese damit nur. Da heißt es, Strauß als Übervater der Nachkriegskonservativen habe ein funktionierendes Rezept zur Abgrenzung gegenüber Rechtsradikalen im Parlament gehabt und daran fehle es heutzutage. Hier spricht ein Zitat von Strauß aus dem Jahr 1969 ganz für sich: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen!“
Schlagwörter: AfD, CDU, Demokratie, Extremismus, Heino Bosselmann, Konservatismus, Rechtsruck, Stephan Jakubowski