21. Jahrgang | Nummer 21 | 8. Oktober 2018

Georg Simmel – ein Klassiker neu gelesen

von Mathias Iven

Kurz vor seinem Tod zog Georg Simmel Bilanz. Zwischen 1879 und 1918 hatte er mehr als zwei Dutzend Bücher veröffentlicht und weit über 200 Artikel und Besprechungen geschrieben. Konnte man bei solch einem Lebenswerk etwas besonders hervorheben? In seinen nachgelassenen Aufzeichnungen findet sich eine Antwort darauf: „objektiv ist freilich die Philosophie des Geldes das bedeutendste, als erster Versuch, die Entwicklung der ganzen seelischen Menschheitskultur an einem einzelnen Symbol darzustellen“.
Simmels Philosophie des Geldes erschien im Jahre 1900 im Leipziger Verlag von Duncker & Humblot, gewidmet hatte er das Buch seinen Berliner Künstlerfreunden Reinhold und Sabine Lepsius. Eine Deutung der modernen, kapitalistischen Welt sollte es werden, die zugleich die Wechselwirkung von Geld und Kultur aufzeigen wollte. „Die allgemeine Akzeptiertheit des Geldes“, so schreibt er an einer Stelle, „sowie seine leichte Transportfähigkeit, schließlich seine Sublimierung im Giroverkehr und Wechselversand lassen seine Wirkungen in unbegrenzbare Fernen ausgreifen und schaffen schließlich aus der gesamten Kulturwelt einen einzigen Wirtschaftskreis mit ineinandergreifenden Interessen, sich ergänzenden Produktivitäten, gleichartigen Usancen.“ Der Geldgebrauch gepaart mit dem Intellekt wird zur „Pflanzstätte des wirtschaftlichen Individualismus und Egoismus“.
Der 1858 in Berlin geborene, heutigentags meist nur noch als einer der Begründer der Soziologe wahrgenommene Simmel studierte nach dem Abitur Geschichte, Völkerpsychologie und Philosophie an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Promotion und Habilitation gelingen ihm erst im zweiten Anlauf. Von 1885 bis 1914 lehrte er – unbesoldet – in Berlin, im Jahr des Kriegsausbruches erhielt er einen ordentlichen Lehrstuhl für Philosophie an der Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg.
Welche Bedeutung kann man Simmels Schaffen zumessen? Wie modern sind seine Schriften? Diesen Fragen geht das jetzt bei Suhrkamp pünktlich zum 100. Todestag erschienene Simmel-Handbuch nach. Den Herausgebern geht es vor allem darum, „neue Leitlinien der Interpretation [zu] eröffnen“. Stehen wir doch, wie Hans-Peter Müller in seiner umfassenden, den derzeitigen Forschungsstand widerspiegelnden Einführung betont, erst am Anfang damit, „uns einen Reim auf Person und Werk zu machen“. Zudem herrscht – da es bis heute noch keine Biographie gibt – auch Uneinigkeit darüber, „wer genau Georg Simmel war und wie die zentrale Botschaft in seinem komplexen Werk eigentlich lautet“.
Mehr als 80 Wissenschaftler haben an dem Handbuch mitgearbeitet. Das thematisch breit gefächerte Spektrum von Simmels Schriften wird durch 105 alphabetisch geordnete Artikel von A wie Abenteuer bis Z wie Zynismus erschlossen. Daran anschließend werden die inhaltlichen Schwerpunkte der 14 wichtigsten Monografien behandelt. Und schließlich befassen sich sechs Essays mit der Aktualität und Anschlussfähigkeit von Simmels Denken. Nach dem Abschluss der zwischen 1989 und 2015 entstandenen, 24 Bände umfassenden Gesamtausgabe, durch die Simmel zu Recht in den Rang eines „Klassikers“ sowohl der Soziologie als auch – zusammen mit Ernst Cassirer – der Kulturphilosophie erhoben wurde, ist das Simmel-Handbuch ein weiterer wichtiger Beitrag zur Erschließung und Aneignung seines Werkes.
„Ich weiß“, so äußerte sich Simmel einmal, „daß ich ohne geistigen Erben sterben werde (und es ist gut so). Meine Hinterlassenschaft ist wie eine in barem Gelde, das an viele Erben verteilt wird, und jeder setzt sein Teil in irgendeinen Erwerb um, der seiner Natur entspricht: dem die Provenienz aus jener Hinterlassenschaft nicht anzusehen ist.“ – Er hat seine würdigen Erben gefunden.

Hans-Peter Müller / Tilman Reitz (Hrsg.): Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität, Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 960 Seiten, 38,00 Euro.