von Herbert Bertsch
„Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“(?)
Adorno
Guy-Ernest Debord ist seit dem 30. November 1994 tot, aber mit dem Titel seines Hauptwerks (deutsch): „Die Gesellschaft des Spektakels“(1967) könnte er die aktuelle deutsche Situation trefflich charakterisiert haben, auch wenn er die französische seiner Zeit beschrieb, analysierte und mit Vorschlägen versehen hat, die was mit dem Motto zu tun haben könnten: So geht’s nicht.
Das hat er mit Adorno gemein, der zu fürchten schien, was sein auf den Hauptsatz verkürztes Werk als Interpretationsmasse anrichten würde. Deshalb hatte er zunächst eine eindeutigere Fassung zu Papier gebracht, die ihm dann möglicherweise zu profan wirkte: „Es lässt sich privat nicht mehr richtig leben.“ Bislang schien es anders in dem Land, in dem „man gut und gerne lebt“, wie die Bundeskanzlerin seit langem auch erfolgreich verkündet. Und nun, für sie anscheinend unerwartet, eine bundesweit und außerhalb verbreitete Erkenntnis, wie sie in elementarer Interpretation des Adorno-Satzes lauten könnte: „Es gibt kein richtiges Sich-Ausstrecken in der falschen Badewanne.“ Entweder kleiner werden oder in eine andere Badewanne wechseln. Damit von der Metapher zum realen Leben.
Bei der Abwehr von Entscheidungen für die Zukunft wird gern „Sowohl als auch“ als Ausweg praktiziert. Ein verbreiteter Irrtum dabei, dies sei auch Grundkonsens für die politischen Organisation der Gesellschaft, sei Wesen von Demokratie und in Deutschland fast hinreichend vorhanden, nur, eigentlich grundlos, von Rändern her bedroht. Diese sind deshalb zu integrieren (historisch: die Rechten bei CSU/CDU), oder gegenteilig (historisch: KPD und andere Linke) konsequent auszugrenzen. Aber nun bricht Konkurrenz aus und in der Mitte auf, derer man sich so sicher war, weil die gegenwärtigen Parlamentsparteien mit Ausnahme der Linken sich als Volksparteien stilisieren. Freilich hauptsächlich zwecks Stimmensammlung, womit Funktion und Sinn von Parteien als Interessenvertretung entschwinden. Parteien und Staat sind eng verquickt statt scharfkantig, damit nicht mehr verfassungskonform. Bei anderer Bedürftigkeit wird die Verfassung fast jährlich geändert oder durch Spruch des Bundesverfassungsgerichts angepasst. „Das Grundgesetz gilt als eine der am häufigsten geänderten Verfassungen der Welt.“ Jüngste Revision am 13. Juli 2017. (Wikipedia). Bei so viel Eifer hierzu kein Bedarf – oder nicht daran rühren?
Das Prinzip der „Volkspartei (en)“ ähnelt übrigens sehr der maßgeblich von Ulbricht entwickelten und praktizierten Konzeption der „Menschengemeinschaft“ in der DDR, wo man deshalb keine Parteien herkömmlicher Fasson der Weimarer Republik brauchte, weil die wesentlichen Interessengegensätze durch das sozialistische Prinzip überwunden wären.
Das jetzt auswuchernde System der „Volksparteien“ haben die autokratischen Demokraten aller Parteien nach 1945 in der BRD nicht mal im Ansatz debattiert: Parteien waren im Grundgesetz-Verständnis Partei! Dennoch offenbar erfolgreicher als jene, die mit vorgeblichen Bemühungen für das Wohl aller werben. Als Konrad Adenauer, mit seiner eigenen Stimme – was ihm von Gegnern als unanständig angekreidet wurde – Bundeskanzler wurde, antwortete er: „Mehrheit ist Mehrheit“ und regierte los. Ob diese Praxis und die der Nachfolger als Machtausübung vor allem guter „Kommunikation und Sprache“ zu danken sei, erscheint da ziemlich unwahrscheinlich, auch wenn die Bundeskanzlerin jüngst in der Sache Maaßen meinte, es käme auf die „Vermittelbarkeit“ an, offenbar nicht auf die Notwendigkeit, klare Entscheidungen zu fällen: Tragbar oder nicht. Stattdessen die neue „Vermittlung“ an das Volk, nun sei alles gut, denn der in Rede Stehende bekomme nicht mehr Geld. Da spektakelt es aber heftig, schon beim Rechnen. Herr Maaßen bekommt 10.746,50 Euro Gehalt, pro Tag rund 360 Euro. Als Staatssekretär hätten ihm 14.157,33 Euro zugestanden. Im Jahr wären das rund 30.000 Euro mehr an Gehalt, diese Summe wird nun eingespart! Was aber kostet die „einvernehmliche Lösung“ tatsächlich, wenn für das bisherige Gehalt eine zusätzliche Stabsstelle im Bundesinnenministerium erfunden wurde? Der oder die oberste Verfassungsschützer(in) dürfte ja auch Gehalt kriegen. In Summa also zusätzlich 128.958 Euro für die elegante Regelung.
Hier reden wir von Staatsgeld. Aber wie kommt die BRD damit klar, dass es rechtens und „Werte“-gemäß vertretbar sei, in der Wirtschaft, ganz andere Summen zu verteilen? Der Ex-VW-Chef Winterkorn darf als vermutet Krimineller nicht in die USA, da dort ein Haftbefehl gegen ihn besteht. In Deutschland hat er nach Abgang sein millionenschweres Gehalt bis 2016 weiterbezogen undkriegt jetzt im Ruhestand eine tägliche Rente von 3.100 Euro. Was sind da die 360 Euro Tagessatz für Herrn Maaßen, der immerhin dafür beschäftigt wird? Weniger bekannt, dass Winterkorns Vorstandskollegin Christine Hohmann-Dennhardt das gleiche Unternehmen bereits nach 13 Monaten Beschäftigung (womit eigentlich?) verließ und dafür zusätzlich eine Abfindung von über 13 Millionen kassierte. Ihr Hintergrund: Langjähriges SPD-Mitglied, ehemalige Justizministerin in Hessen und Bundesverfassungsrichterin mit entsprechenden Pensionsansprüchen. Und Herr Gabriel: Er muss noch eine Karenzzeit bis März 2019 überstehen, mit Übergangsgeld, versteht sich. Dann aber wird er in den Verwaltungsrat von Siemens Alstom einziehen und lässt wissen, er freue sich schon darauf. Zusätzlich wohl auch auf die Aussicht auf Vize-Kanzlerschaft, dies mit dem Vorab-Segen der „Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände“, der jüngst schon seine Trennung von Angela Merkel als Bundeskanzlerin andeutete. Etwa parallel zu diesen Vorgängen um und mit Geld diese Mitteilung des Statistischen Bundesamtes, dass im Jahr 2014 21,4 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor tätig waren und dort weniger als 10 Euro Stundenlohn für sich erwirtschafteten.
Mit Blick auf die Auswirkung grundlegender Widersprüche, als „Leistungsprinzip“ verhüllt, hat Hans Richter, ein profilierter Wirtschaftsstrafrechtler, so geurteilt: „Wir zerrütten auf diese Weise den Rechtsstaat.“ Damit zu den wirklich reichen Deutschen und ihrem Anteil an dieser „Zerrüttung“! Was und wie reguliert da der Staat? Geht ihn das wirklich nichts an? Die Besitztümer der Reichen sind eine wesentlich wirkungsvollere Interessen-Konstante als jegliche Parteien oder Regime; manche in Generationen seit dem Mittelalter. Sie haben irgendwie alles überstanden, mitunter mit Verlusten, sind aber immer wieder und weiter gekommen. Nur zeitweilig war dies in Deutschland durch die DDR unterbrochen. Nach deren Liquidierung wurde folgerichtig das vermeintliche Unrecht geheilt. Auch das lohnt eine nähere Betrachtung über die Auswirkung der übergestülpten Gesellschaft, die vermeintliche Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West auch bei Einfluss, Einkommensverteilung, Reichtum und deren absehbare Konsequenzen dazu: Im Osten kein Platz für Eliten, kein Aufstieg in Eliten, gesellschaftlich auch nicht für Bundes- oder Bundestagspräsidenten nach ihrer Amtszeit.
Dies, die folgenden Angaben und sehr viel mehr dazu entnehme ich dem empfehlenswerten „Nachschlagewerk“ von Michael Hartmann „Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden“, Campus Verlag Frankfurt/New York, 2018. Von Hartmann, einem Soziolagen mit dem Schwerpunkt Eliteforschung, erschien bereits 2016: „Die globale Wirtschaftselite. Eine Legende“ mit verblüffenden Ergebnissen beim internationalen Vergleich mit den „deutschen Zuständen“:
„Unter den mehr als 500 Vorstandsmitgliedern der hundert größten deutschen Unternehmen findet man ebenso wie unter den ungefähr 160 Staatssekretären und Abteilungsleitern der Bundesministerien oder den fast 340 Richtern an den Bundesgerichten jeweils nur eine Handvoll ehemaliger DDR-Bürger. Selbst an den Gerichten in den neuen Bundesländern bekleiden sie nur 5,9 Prozent der leitenden Positionen. Auf die Entwicklung in den neuen Bundesländern, vor allem den rasanten Aufstieg der AfD, wird vor Ort zumeist von Eliteangehörigen reagiert, deren Prägung in den alten Bundesländern erfolgte. […] Der Rechtspopulismus hat seine Erfolge zum größten Teil der neoliberalen Politik der in den letzten Jahrzehnten herrschenden Eliten zu verdanken sowie der schier unendlichen Zahl von Skandalen in diesen Kreisen. Sie haben Personen wie Donald Trump oder Marine Le Pen erst stark gemacht.“
Fügen wir für Deutschland hinzu: Die Losung „Wir sind das Volk“ genießt keinen Patentschutz, kann also ungeahndet von jedermann gebraucht werden. Wer ihr Weiterwirken befördert, muss begründet Besorgnis davor haben, wie Volk („der große Lümmel“) auf bessere „Vermittlung“ von Irrtümern künftig reagiert. Vielleicht sind doch klare Entscheidungen angesagt.
Schlagwörter: Demokratie, Grundgesetz, Herbert Bertsch, Michael Hartmann, politische Parteien, Volkspartei