von Klaus Joachim Herrmann
„Die Macht ist sehr klug“, klagt Michail Swetow, Führungsmitglied der Libertären Partei Russlands. „Wenn sie dämlich wäre, hätten wir sie schon lange besiegt.“ Das Ausbleiben des Erfolgs mag auch an der Durchschlagskraft seiner 1000-Mitglieder-Partei mit ihrem Monatsbudget von 30.000 Rubel (knapp 380 Euro) liegen. Deren größte Abteilung wirkt in Moskau mit 200 Mitgliedern. Die übrigen Parteigänger seien in jeder Stadt zu finden, versichert Swetow im Interview mit dem Webportal znak. Seine Leute seien im ganzen Land aktiv, organisierten Meetings – „auch an der Seite Alexej Nawalnys“. Die Kränkung durch den im Westen bekanntesten russischen Oppositionellen, der einst fragte, ob libertär so eine Art Veganismus sei, scheint vergessen. Jetzt leiteten libertäre Aktivisten zahlreiche Stäbe Nawalnys, freut sich Swetow. Da die Macht gegen Versuche der Menschen, sich selbst zu organisieren, effektiv vorgehe, müsse man sie eben zu überlisten versuchen. Im Protest gegen die Schließung des populären Messenger-Dienstes Telegram durch die Regierung machten die Libertären das erste Mal ernsthafter von sich reden.
Das gelang auf eigentümliche Weise auch Viktor Solotow, Direktor der russischen Nationalgarde. Die war vom „Fonds des Kampfes gegen Korruption“ wegen mutmaßlicher Unregelmäßigkeiten ins Gerede gebracht worden. Also forderte der Armeegeneral Genugtuung – im Duell mit Nawalny, dem Chef des Fonds. Der frühere Leibwächter des damaligen Petersburger Bürgermeisters Anatoli Sobtschak, politischer Ziehvater des heutigen Präsidenten Wladimir Putin, dürfte sich wohl ganz gut schlagen. Sein ungeliebter Wunschpartner büßte im September seinen 30-Tage-Arrest wegen der ungenehmigten Protestaktion „Wählerstreik“ vom Januar 2018 ab. Da war er nicht satisfaktionsfähig und aus dem Rennen. So wenigstens die Eingebung gewisser Staatsorgane rechtzeitig vor dem 9. September, dem Tag der Wahl des Moskauer Bürgermeisters und der Verwaltungschefs und örtlichen Parlamente in 22 Regionen.
Doch Nawalny selbst lässt sich sein Duell mit der Staatsmacht nicht nehmen. Schon gar nicht an solch einem Wahltag im größten Land der Erde. Da er dazu aufrief, rechnen er und seine Stäbe sich an, dass in mehr als 60 Städten Tausende Menschen gegen die Rentenreform auf die Straße gingen. 800 bis 1000 von ihnen sollen nach Angaben des Bürgerrechtsportals OVD-Info festgenommen worden sein. Die Verbreitung des Protest-Aufrufs über die Videoplattform YouTube prangerte Moskau als Einmischung der USA in den Wahlkampf an. Viele Aktionen seien vorab untersagt, Aktivisten „präventiv“ festgesetzt worden, doch die Meetings und Märsche habe das nicht stoppen können, analysierte die Nesawissimaja Gaseta. Erneut habe Nawalny gezeigt, dass von der „Nichtsystem-Opposition“ allein er Menschen „unter Polizeiknüppel führen“ könne. Er habe damit seinen Status als führende Persönlichkeit erneuert. Das sei auch seine offenkundige Absicht gewesen. Die Regierenden hätten dazu beigetragen, dass er es dem ganzen Land und der Welt habe zeigen können.
Verholfen hat ihm die Obrigkeit dazu nicht nur mit dem Arrest am Wahl- und Protesttag, sondern mehr noch mit ihrem heftig umstrittenen Versuch, nach inzwischen 90 Jahren und unter veränderten Bedingungen erstmals das Renteneintrittsalter heraufzusetzen. So soll – nach mäßigender Intervention des Präsidenten – das Pensionseintrittsalter für Frauen nicht mehr um acht, aber immer noch um fünf Jahre angehoben werden und künftig bei 60 Jahren liegen. Bei Männern ist eine Erhöhung von 60 auf 65 Jahre geplant.
An Opposition gibt es ungeachtet aller anders lautenden Klagen des Westens kaum Mangel in Russland, und sie ist nicht auf die von Nawalny geführte außerparlamentarische beschränkt. Innerhalb des Systems profiliert sich die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) als zweiter ernst zu nehmender Gegner der Kremlpartei. Die kommunistische Führung beschwor nach der Auszählung bereits die Geburtsstunde eines Zwei-Parteien-Systems in Russland. Der langjährige KP-Vorsitzende Gennadi Sjuganow freute sich: „Wir sind in eine neue politische Epoche eingetreten.“ ZK-Sekretär Sergej Obuchow erläuterte selbstbewusst: „Es zerfällt das dominierende politische System, an dessen Spitzen ‚Einiges Russland‘ herrscht.“ Es gebe eine neue Etappe der Konkurrenz – in vielen Regionen sei die stärkste nicht mehr die Kremlpartei, sondern die kommunistische. In drei Gebieten habe die KP mit über 30 Prozent der Stimmen ihre besten Resultate und in weiteren Regionen über 20 Prozent erzielt. Die „Machtpartei“ verlor in über der Hälfte von 16 Regionen ihre absolute Mehrheit in den Parlamenten. Dabei war „Einiges Russland“ nach Medienberichten in kritischen Regionen sogar zugestanden worden, als „Partei des Präsidenten“ für sich zu werben.
Bei den Gouverneurswahlen siegten bei üblich mäßiger Beteiligung von rund 40 Prozent in 18 Regionen die Favoriten für das Gouverneursamt. Am glanzvollsten war wohl der Sieg des offiziell unabhängigen, aber kremltreuen Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin mit 70 Prozent – bei Beteiligung von 30 Prozent. Nicht nur Präsident Wladimir Putin und Premier Dmitri Medwedjew, mit denen er durch lange gemeinsame Arbeit vertraut ist, meinen, er mache seine Sache seit 2010 gut. Das bestätigten Erhebungen des soziologischen Institutes Lewada. Rund die Hälfte der Moskauer bescheinigten Sobjanin ein „gut“, weitere knapp 40 Prozent sehen ihn bei „mittel“ und nur neun Prozent bei „schlecht“. Sobjanin setzt sich die „Überwindung territorialer Ungleichheit“ in der Riesenstadt bis 2023 zum ehrgeizigen Ziel. Vorgesehen sind umfangreiche Investitionen in Gesundheits- und Sporteinrichtungen, in die soziale Infrastruktur und den städtischen Verkehr.
Bei einer der vier Stichwahlen kam es allerdings zum Eklat. Im fernöstlichen Primorje sah sich der Kandidat der Kommunisten um seinen schon als sicher gefeierten Sieg betrogen. Andrej Ischtschenko hatte bis zur Auszählung von 98 Prozent der Stimmen mit gut drei Prozentpunkten Vorsprung geführt, nachdem er zuvor den führenden Amtsinhaber überholt hatte. Nach der Auszählung von 99 Prozent der Stimmen sah die regionale Wahlkommission in Wladiwostok aber auf einmal den kommissarischen Gouverneur Andrej Tarassenko von der Kremlpartei vorn. Der auf den zweiten Platz verschobene Kommunist und unabhängige Beobachter sprachen von Fälschungen. Genannt werden Einsatz „administrativer Ressourcen“, also Amtsmissbrauch, Stimmenkauf, Abstimmung unter Zwang sowie mehrfacher Einwurf von Stimmzetteln in die Urnen. Wahlprotokolle aus mindestens 13 Wahllokalen verschwanden spurlos. Ein Hungerstreik des vermutlich geprellten Kandidaten wurde nach zwölf Stunden beendet: Die Zentrale Wahlkommission unter Ella Pamfilowa sicherte die Entsendung einer Kommission zur Prüfung der Vorwürfe zu. Die brauchte nicht lange, um die Annullierung der Stichwahl zu empfehlen: „Es ist unmöglich, zuverlässig das Ergebnis der Willensbekundung der Wähler zu bestimmen.“ Ausdrücklich den Organisatoren der „Gruppenverschwörung“, „feigen Schurken“, drohte die Wahlchefin bis zu vier Jahre Gefängnis an. „Die Wahlen in Russland müssen maximal sauber werden“, forderte die frühere Menschenrechtsbeauftragte Russlands, „uns steht noch große Arbeit bevor.“
Der Kommunist war immerhin schon weit gekommen, denn gewöhnlich scheitern Gegenkandidaten zumeist im „kommunalen Filter“. Sie müssen für die Registrierung eine bestimmte Anzahl an Unterschriften von Abgeordneten der Kommunal- und Stadtparlamente vorlegen. Darin sieht auch Wahlchefin Pamfilowa eine Bedrohung des politischen Wettbewerbs und fordert die Abschaffung solcher Vorauswahl. Für diesen Urnengang jedoch zu spät. Es bleibt der Vorwurf, dass keine wirklich oppositionellen Kandidaten zugelassen worden seien und eine „würdige“ Wahlbeteiligung den Mangel wieder nur unvollkommen ausgleichen konnte.
Die herrschende Partei „Einiges Russland“ wird sich wohl künftig etwas weniger auf ihrer Macht ausruhen dürfen. Das Leben in Russland wird teurer, erstmals seit einem Jahr beunruhigten im September wieder um zehn Prozent steigende Preise die Bürger. Neben der Rentenreform machen ihnen Arbeitslosigkeit und drohende Verarmung die größten Sorgen, vertraute zumeist deutlich mehr als die Hälfte der Befragten den Lewada-Soziologen an. Auch das der Obrigkeit näher stehende Institut WZIOM ist sich mit den im Westen gern als unabhängig gepriesenen Lewada-Experten hinsichtlich einer wachsenden Protestbereitschaft einig. Rund 40 Prozent der sonst duldsamen Bürger halten Proteste für möglich, knapp 30 Prozent würden selbst auf die Straße gehen. Ähnliche Werte wurden zuletzt in der Wirtschaftskrise des Jahres 2009 erreicht, es sind in jedem Falle die höchsten seit der Übernahme der Krim im Jahre 2014. „Sozialer Pessimismus“ werde genährt durch die Angst, ökonomische Probleme würden auf den einzelnen abgewälzt, zitierte die Nesawissimaja Gaseta Dmitri Schurawljow, Generaldirektor des Instituts für regionale Probleme.
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