21. Jahrgang | Nummer 19 | 10. September 2018

Eine unzeitgemäße Sichtweise

von Erhard Crome

Der Autor Douglas Murray schreibt für angesehene Zeitungen wie die Sunday Times, The Guardian und das Wall Street Journal. Das Buch „Der Selbstmord Europas“ war 2017 im internationalen Bloomsbury Verlag erschienen und hatte die Bestseller-Liste der Sunday Times angeführt. Im Englischen lautete sein Titel: „The Strange Death of Europe“, was eher als „der seltsame Tod“ übersetzt werden müsste. Die Londoner Times schrieb über das Buch: „Gelegentlich wird etwas veröffentlicht, das den Nebel der Verwirrung, der Verdunkelung und der Unaufrichtigkeit der öffentlichen Debatte durchbricht, um eine zentrale Tatsache über die Welt zu beleuchten. Solch ein Werk ist Douglas Murrays erschütterndes Buch.“
Das Vorwort beginnt mit dem Satz: „Europa begeht Selbstmord“. Von hier kommt denn wohl die Titelwahl des deutschen Verlages. Es geht dann aber weiter mit der Aussage: „Oder zumindest haben sich seine Führer dafür entschieden. Ob die europäischen Bürger ihnen auf diesem Wege folgen wollen, ist freilich eine andere Frage.“ Mit anderen Worten: Es ist noch nicht ausgemacht, ob es zum ankündigten Suizid kommt. Murray bezieht sich dabei auf das autobiographische Werk von Stefan Zweig: „Die Welt von gestern“: Am Ende werde das Europa, das wir kannten, nicht mehr sein. „Wir werden den einzigen Ort auf der Welt, der unsere Heimat war, verloren haben.“
Maßgeblich dafür ist Murray zufolge das Zusammenspiel verschiedener Faktoren: deutlicher Rückgang der Geburtenraten der angestammten Bevölkerungen, die massenhafte Einwanderung von Menschen mit anderer Kultur und anderen Wertvorstellungen und vor allem die Tatsache, dass „Europa zur gleichen Zeit […] den Glauben an seine Überzeugungen, Traditionen und an seine eigene Legitimität verloren“ habe. Allerdings spricht Murray ausdrücklich von Westeuropa. Das heißt, das gesamte Werk ist als Diagnose der Situation und der politischen Abläufe im Westen unseres Kontinents zu lesen. Auf die andersartigen Positionierungen in Ostmittel- und Osteuropa, insbesondere auch gegenüber den Zumutungen aus Brüssel und Berlin, geht der Autor aber zumindest an zwei Stellen ein und verweist darauf, dass wir es hier auch mit einem kulturellen Bruch innerhalb der Europäischen Union zu tun haben. Der zentrale Punkt, den der Autor bereits im Vorwort deutlich macht, lautet daher: „Und während die Einwanderung von Millionen Menschen aus anderen Kulturen in eine starke und durchsetzungsfähige Kultur hätte funktionieren können, kann die Einwanderung in eine von Schuld zermarterte, abgestumpfte, sterbende Kultur nicht gut gehen.“
Am Anfang der Darstellung stehen zwei Punkte: Erstens – in Großbritannien war das Ausmaß der Veränderungen bereits festzustellen, als andere europäische Länder noch strikt ablehnten, überhaupt Einwanderungsländer zu sein. Viele muslimische Einwanderer, insbesondere aus Pakistan, bestanden darauf, ihre Lebensweise weiterzuführen, bildeten eigene Wohnviertel und machten die angestammten Briten am Ende zu einer Minderheit in der Hauptstadt London. Zweitens – im Nachkriegsaufschwung der 1950er und 1960er Jahre bestand eine drängende Nachfrage nach Arbeitskräften, die durch „Gastarbeiter“ befriedigt werden sollte, die je nach historischem Kontext in Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Westdeutschland aus unterschiedlichen Weltregionen kamen. Zugleich setzte sich in den Regierungsbehörden Großbritanniens eine Richtung durch, die bestrebt war, Einwanderung als an sich positiv zu besetzen. Da wurden denn auch Fakten und Zahlen zurechtgebogen und missliebige kritische Meldungen unterdrückt. Dazu gehörte etwa in den 2000er Jahren das Argument, die jüngst angekommenen Einwanderer hätten das Land wirtschaftlich bereichert. Eine entsprechend bezahlte Studie des Forschungszentrums für Migration am University College London über die Jahre 1995–2011 teilte dies freudig mit. Nach kritischer öffentlicher Debatte musste jedoch eingeräumt werden, dass das Gegenteil der Fall war und die Kosten die Beiträge überstiegen.
Das Argument, Migration sei schon wegen der Globalisierung unaufhaltsam, zeigt sich im Übrigen spätestens dann als nicht tragfähig, wenn man auf China als die zweitgrößte und Japan als die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt schaut, die beide praktisch keine Masseneinwanderung erfahren.
Das Argument einer positiv wachsenden Diversität, bei Unterstellung, dass europäische Gesellschaften eher farblos und langweilig sind, erweist sich bei näherem Hinsehen ebenfalls als nicht stichhaltig. Juden sehen sich in europäischen Städten den Angriffen muslimischer Jugendlicher gegenüber. Homosexuelle trauen sich selbst in Amsterdam oder in Norwegen nicht mehr, ihre Identität öffentlich zu zeigen, aus Angst, von Muslimen zusammengeschlagen zu werden. „Während Liberale in westeuropäischen Demokratien Jahre damit verbracht hatten, immer extremere Nischenaspekte der Frauen- und Schwulenrechte zu diskutieren, befürworteten sie weiter den Import von Millionen Menschen, die diesen Bewegungen das Existenzrecht grundsätzlich absprachen“ und „nicht einmal daran glaubten, dass Frauen die gleichen Rechte wie Männer genießen sollten“.
Parallel dazu bildete sich einerseits ein Schulddiskurs heraus, der in Bezug auf Europa immer nur die negativen Seiten hervorhob. Andererseits entwickelte sich ein „Nachkriegskult um die Menschenrechte“, im Grunde als ein Versuch, „eine säkulare Version des christlichen Gewissens einzuführen“. Dies jedoch vor dem Hintergrund einer Geschichtsmüdigkeit: Die Europäer „hatten alles ausprobiert: die Religion und ihre Ablehnung, den Glauben und seine Ablehnung, den Rationalismus und den Glauben an die Vernunft. Sie hatten so gut wie jedes politische und philosophische Projekt begründet. Europa probierte und erlitt sie alle, und was vielleicht am verheerendsten war, sie wurden auch zu Ende geführt. Diese Ideen hinterließen Hunderte Millionen Tote, nicht nur in Europa“. Daraus, so Murray, ergaben sich im Nachkriegseuropa drei Konsequenzen: Abkehr von Ideen überhaupt und „Spaß haben“, Zynismus und Dekonstruktion aller Ideen sowie eine omnipotente Vorstellung der Menschenrechte. Es liege aber nicht in der Macht Europas, die Probleme Syriens zu lösen, den Lebensstandard Schwarzafrikas zu erhöhen, liberale Rechte weltweit einzuführen, alle Konflikte in der Welt zu lösen. Die meisten Menschen außerhalb Europas „teilen unsere Ängste und Zweifel, unser Misstrauen nicht. Sie misstrauen ihren eigenen Instinkten und Handlungen nicht. Sie haben keine Angst davor, im eigenen Interesse zu handeln“.
Deshalb sollten auch die Europäer von ihren eigenen Interessen ausgehen. Das bedeutet zum Beispiel, Migranten in der Nähe ihres Landes unterzubringen und dabei zu helfen, Asylanträge außerhalb Europas zu bearbeiten sowie tatsächlich die Abschiebung all jener zu organisieren, deren Asylanträge abgelehnt wurden.
Eine Umfrage in den Niederlanden erbrachte 2013, dass 77 Prozent der Befragten der Meinung waren, ihr Land sei durch den Islam nicht bereichert worden, 73 Prozent meinten, es gäbe einen Zusammenhang zwischen dem Islam und den Terroranschlägen. Ähnliche Umfrageergebnisse liegen auch aus anderen Ländern vor. Die westeuropäische politische Klasse jedoch versuche den Menschen ununterbrochen zu erklären, sie hätten nicht recht. Oder sie seien Rassisten, respektive Nazis. Diese politische Klasse wolle die öffentliche Meinung kontrollieren und verändern, nicht aber die Probleme lösen. Um der persönlichen Beliebtheit willen verfolgten die meisten derzeitigen Politiker einen „mitfühlenden“, „großzügigen“ Kurs und schöben die schwierigen Probleme vor sich her, überließen sie ihren Nachfolgern.

Douglas Murray: Der Selbstmord Europas, FinanzBuch Verlag, München 2018, 384 Seiten, 24,99 Euro.