von Wolfgang Hochwald
Mein schönstes musikalisches Erlebnis dieses Jahres fand am ersten Tag unserer USA-Reise statt. Wir schlenderten entspannt durch den Public Park in Boston und hörten, wie ein Mann an der Gitarre und eine Frau am Cello zu spielen begannen. Wir setzten uns vor ihnen auf die Bank und lauschten vom ersten Moment an völlig gebannt, wie sie das mir bis dahin unbekannte Lied „The Blue Train“ von Tom Kimmel und Jennifer Kimball interpretierten. Ich habe mir seitdem im Internet die verschiedensten Fassungen, die es von diesem Lied gibt, angehört, aber keine reicht an die gefühlvolle Version heran, die uns im Bostoner Park wahrlich den Atem verschlug. Wer einen vagen Eindruck von unserer Erfahrung bekommen mag, sollte sich eine Live-Fassung von Tom Kimmel aufrufen, die der von uns gehörten Version am nächsten kommt.
Kann ein Musikfestival, also eine mit sehr intensiver Planung vorbereitete Veranstaltung, ein solch spontanes musikalisches Erlebnis schaffen, dem Besucher etwas mitgeben, das er nicht mehr vergisst?
Über Haldern Pop, das Festival im 5000-Einwohner-Ort Haldern am Niederrhein, berichte ich im Blättchen nun im vierten Jahr in Folge. Und Haldern Pop bot auch dieses Mal dank der festen Verwurzelung des Festivals im Ort, dank der unterschiedlichsten Stile und Musikgenres und dank der Freundlichkeit und Musikliebe der Veranstalter und Gäste Momente, die wohl dauerhaft in den Köpfen und Herzen der Besucher bleiben.
Solche Momente ergeben sich zum Beispiel dann, wenn Künstler aus verschiedenen Bands auf der Bühne für ein oder mehrere Stücke zusammenfinden und Musik darbieten, wie es sie in dieser Form vielleicht nie wieder geben wird. So wurde in der Dorfkirche, die wieder ein beliebter Veranstaltungsort des Festivals war, der Italiener Fabrizio Cammarata vom Berliner Chor „Cantus Domus“ unterstützt. Der Chor hatte zuvor die ganze Bandbreite seines Könnens gezeigt – von klassischer Chormusik bis zu dem Stück „Stars“ des zeitgenössischen lettischen Komponisten Eriks Esenvalds, bei dem die Chormitglieder den Gesang mit „singenden Gläsern“ begleiteten. Der Sizilianer Cammarata, der kürzlich seine erste CD veröffentlicht hat, bestach durch virtuoses Gitarrenspiel, eine eindrucksvolle, unverwechselbare Stimme und gefühlvolle Lieder, die durch die Unterstützung des Chores noch an Tiefe gewannen.
„Fortuna Ehrenfeld“ mit Songschreiber und Frontmann Martin Bechler waren für die meisten Festivalgäste eine besondere Überraschung. Als erste Band am dritten Festivaltag um 13:45 Uhr auf der Hauptbühne begannen Bechler (Markenzeichen Schlafanzug und Fellpantoffel) und seine beiden Musiker mit leisen Tönen und in der Folge ständig anwachsender Energie und zogen so das immer größer werdende Publikum in ihren Bann. Bechler, studierter Musikwissenschaftler, Toningenieur und Musikproduzent, hat erst mit Ende 40 sein Debüt-Album veröffentlicht. Seine Songs heißen zum Beispiel „Nach Diktat verreist“ oder „Das heilige Kanonenrohr“ und enthalten Sprachbilder, wie sie selten sind in der deutschen Popmusik. Zum Abschluss holten „Fortuna Ehrenfeld“ zur kongenialen Begleitung die Bläser des „Reit- und Fahrverein St. Georg Haldern e.V.“ (das Festival findet auf dem örtlichen Reitplatz statt) auf die Bühne.
Eine herausragende Performance bot das Berliner Orchester-Kollektiv „stargaze“ unter der Leitung von André de Ridder mit der „stargaze Hip Hop Challenge“. „stargaze“, ein Netzwerk von klassisch geschulten Musikern, hat sich einen Namen durch eine Vielzahl von Kooperationen in der Pop-, elektronischen und klassischen Musik gemacht. Beim diesjährigen Auftritt führten sie eigene Kompositionen auf oder sampelten Stücke, zu denen die Kanadier „The Lytics“, der US-Amerikaner „Astronautalis“ und die in Sambia geborene „Sampa the Great“ – Hip Hopper, die mit eigenen Auftritten in Haldern vertreten waren – ihren Sprechgesang beitrugen. Ein vermutlich in dieser Form einmaliges Erlebnis, das umso faszinierender war, als die Künstler nur wenig Zeit gehabt haben dürften, den Auftritt gemeinsam zu proben.
Bleibende Momente entstehen auch, wenn der Zuhörer spürt, mit wie viel Herzblut eine Band oder ein Interpret alles gibt, beispielhaft bei „Hannah Williams And The Affirmations“, die im Jugendheim des Ortes – dort wo das Festival vor 34 Jahren seinen Ursprung hatte – spielten. Williams, die mit ihrer hinreißenden und energischen Stimme an Aretha Franklin oder andere große Souldamen erinnert, und ihre siebenköpfige Band lieferten mitreißende Soulmusik, mit der sie mühelos auch das Publikum vor der Hauptbühne für sich gewonnen hätten.
Jade Bird, gerade 20 Jahre alt, aber mit einer Stimme und einem Auftreten, als wenn sie schon doppelt solange auf der Bühne stünde, interpretierte ihre eigenen Stücke an Gitarre und Klavier, lachte herzlich und freute sich geradezu überdreht über die Resonanz des Publikums. Allerdings fürchtete sie, dass womöglich ein Fluch über sie kommen könnte, da sie ihre Songs (einer heißt ausgerechnet „Cathedral“) in der Kirche, wo sie textlich nicht so recht hinpassen würden, vortrüge. Bemerkenswert war auch Birds Version von Kate Bushs „Running Up That Hill“ am Klavier, einem Lied, das 13 Jahre vor Birds Geburt veröffentlicht worden ist.
Ebenfalls auf eine Zeitreise schienen die Australier „Amyl And The Sniffers“ mit ihrer Punkmusik zu gehen. Aber nein, was die drei Musiker an Gitarre, Bass und Schlagzeug und die Sängerin mit Andre Agassi-Gedächtnisfrisur in ihren Drei-Minuten-Songs ablieferten, war reine Energie, gekonnt und wahrhaftig und nahm die Zuhörer im Hier und Jetzt ein.
Das Brüderpaar D’Addario, die „The Lemon Twigs“ bilden, wirkten mit ihrem siebziger Jahre Retro-Rock und der dazu passenden Kleidung (Jackets auf nackter Haut, Schlaghosen und Langhaar-Frisuren) ebenfalls wie aus der Zeit gefallen, interpretieren jedoch die Musik der Siebziger auf eine ganz eigene und sehr gewinnende Art.
Wie in den letzten Jahren begeisterte mich die Vielfalt der Musik, die Haldern bot. Die auch als Schauspielerin bekannte 42-jährige US-amerikanische Sängerin Jenny Lewis – in einen hellblauem Jumpsuit mit rosafarbenen Fransen gekleidet – bot mit ihrer einprägsam hellen Stimme süffigen Country Rock. Kurz danach erklangen die introspektiven Lieder der 25-jährigen Phoebe Bridgers, deren erstes Album „Stranger in the Alps“ ausgesprochen hörenswert ist und die womöglich am Anfang einer großen Karriere steht.
Endlich einmal Musik aus Afrika brachten „Seun Kuti & Egypt 80“ nach Haldern. Der Sohn des Afrobeat Pioniers Fela Kuti und seine zwölf Musiker spielten mit einer geballten Energie, die eins zu eins beim Publikum ankam.
Ein gern gesehener Gast in Haldern ist Gisbert zu Knyphausen, der schon vor zehn Jahren nur mit Gitarre auf der Bühne stand, und inzwischen seine Lieder mit großer Band inclusive fulminanten Bläsern vorträgt.
Das einzige politische Statement gab es von der Hamburger Band „Kettcar“. Im Anschluss an das Lied „Sommer ‘89“, das die Flucht aus der DDR vor dem Mauerfall behandelt und den Vergleich zur heutigen Flüchtlingssituation zieht, sagte der Sänger: „Wir wollen daran erinnern: Humanismus ist nicht verhandelbar!“
Die iranisch-amerikanische Hochschulprofessorin und Schriftstellerin Nazar Afisi schreibt in ihrem Vorwort zur 2014er Neuausgabe von Mark Twains „Abenteuer des Huckleberry Finn“, die wahre Magie, das Markenzeichen jeden großen Schriftstellers sei es, „eine neue Wahrheit auf eine Art zum Vorschein zu bringen, dass der Leser die Welt nie wieder auf die gleiche Weise sieht“. Das kanadische Duo „The Barr Brothers“ könnte von Afisis Worten inspiriert gewesen sein, als sie „Song That I Heard“ schrieben, mein persönlicher Schlüsselmoment beim diesjährigen Haldern Pop. „I was changed by the song that I heard“ heißt es in dem Lied: „Ich wurde verändert durch das Lied, das ich gehört habe“.
Ob bei Straßenmusikanten in einem Park in Boston oder in der Haldener Kirche, für den Menschen, der sein Herz offen hält, kann Musik die Welt anders, etwas besser machen.
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