21. Jahrgang | Nummer 16 | 30. Juli 2018

Licht und Schatten – sechs Wochen durch die USA

von Wolfgang Hochwald

In den USA gibt es sehr häufig sogenannte „4-Way Stops“, das heißt, an jeder der vier Straßenecken steht ein Stop-Schild. Wer zuerst an der Kreuzung ankommt, darf sie auch als Erster überqueren. Fast sieben Wochen waren wir in den USA unterwegs, und es hat sich gezeigt, dass der Verkehr an diesen „4-Way Stops“ absolut reibungslos verläuft und jeder Fahrer auf den anderen Rücksicht nimmt.
Welche sonstigen Eindrücke und Erfahrungen haben wir auf unserer Reise gewonnen, die uns durch sieben große Städte, dreizehn Bundesstaaten, achtzehn Nationalparks und eine Vielzahl von ständig wechselnden kaum zu beschreibenden Landschaften geführt hat?
Besonders bemerkenswert ist zunächst die außerordentliche Freundlichkeit der Amerikaner. Wie erfrischend ist es im Vergleich zu unserem Heimatland, offenen Menschen zu begegnen und immer wieder ein nettes, keinesfalls immer nur oberflächliches Gespräch führen zu können. Wohltuend ist auch die ungemeine Servicebereitschaft in allen Dienstleistungsbereichen und der Eindruck, dass die multikulturellen Teams zum Beispiel in der Gastronomie ausgesprochen gut und freundlich zusammenarbeiten. Umso erstaunlicher, als vermutlich viele Servicemitarbeiter mehrere Jobs haben, um über die Runden zu kommen, und viele Angestellte im Service über 60 sind und offensichtlich ihre Rente aufbessern müssen.
Noch immer kommen die Männer im mittleren Westen in kurzen Hosen, mit weißen Socken und Turnschuhen in (auch bessere) Restaurants. In den Städten ist die Kleidung etwas zivilisierter und überhaupt hat sich die gesamte Essenskultur in den letzten Jahren erheblich verbessert. Natürlich gibt es in allen Städten und insbesondere auf den Einfahrt- und Ausfahrtstrassen die große Ansammlung von Fast Food Restaurants, und es ist zu vermuten, dass sich Familien mit geringem bis mittlerem Einkommen ein anderes Essen nicht leisten können. Dem Touristen und den Besserverdienern bietet sich jedoch insbesondere in den größeren Städten, aber auch vermehrt in ländlichen Regionen eine (auch gesunde) kulinarische Auswahl, die keinen Vergleich mit Europa scheuen muss.
Auf verschiedenen Stationen unserer Reise hatten wir das Gefühl, dass der Umgang der weißen Bevölkerung mit der afro-amerikanischen Kultur mit einem schlechten Gewissen oder zumindest mit dem Gefühl verbunden ist, etwas nachholen oder heilen zu müssen. So wird in Philadelphia, dort wo im „Independence National Historic Park“ der Unabhängigkeit der Vereinigten Statten und der Verfassungsgebung gedacht wird, seit 2010 auf Schautafeln der Tatsache Rechnung getragen, dass George Washington, während er die Ideale der amerikanischen Befreiung und Unabhängigkeit pries, in seinem Haus in Washington bis zu acht Sklaven hatte. Da zu diesem Zeitpunkt die Sklaverei in Pennsylvania grundsätzlich bereits verboten war, behauptete er, um weiterhin Sklaven halten zu können, dass sein Erstwohnsitz nicht in Philadelphia wäre und er und seine Sklaven nie länger als sechs Monate in Pennsylvania wohnen würden.
An der Methodist Episcopal Church in Washington lasen wir auf einem großen Plakat: „We repent for our roots in white supremacy“ (wir bereuen unsere Wurzeln in der weißen Vorherrschaft). Wie wir erfuhren, spaltete sich die Kirche im Jahr 1844 auf, damit die 500.000 zählende „South“-Gemeinde weiterhin Sklaven halten konnte. Ein solches öffentliches „Bereuen“ ist im Capitol in Washington allerdings noch nicht überall zu finden. Seit 1864 hat jeder Bundesstaat das Recht, in der National Statuary Hall Collection, die sich direkt im Kuppelbau des Capitol befindet, die Standbilder von zwei „illustrious“, das heißt berühmten Bürgern des Staates aufzustellen. 12 der 100 Statuen bilden Führer der konföderierten, also der Südstaatenarmee im amerikanischen Bürgerkrieg ab; und das obwohl seit einigen Jahren der Austausch von Statuen erlaubt ist. Immerhin hat der Kongress zusätzlich eine Büste von Martin Luther King und eine Statue von Rosa Parks aufstellen lassen, der afroamerikanischen Bürgerrechtlerin, die den Busboykott von Montgomery im Dezember 1955 auslöste, der als Anfang der schwarzen Bürgerrechtsbewegung gilt.
Dass Rosa Parks‘ Kampf um gleiche Behandlung unabhängig von der Hautfarbe immer noch nicht beendet ist, erlebten wir am 29. Mai bei der Kaffeekette Starbucks. Im April hatte eine Managerin des Unternehmens in Philadelphia zwei schwarze Gäste von der Polizei verhaften lassen, die lediglich auf einen Dritten für eine geschäftliche Besprechung warteten. Für Starbucks, wo Mitarbeiter aller Nationalitäten und Hautfarben arbeiten, war dieser Vorfall offensichtlich so einschneidend, dass das Unternehmen am Nachmittag dieses Maitages alle 8000 Niederlassungen mit insgesamt 175.000 Angestellten geschlossen hielt, um ein „Anti-Bias“-Training durchzuführen – eine Schulung, um unbewusste Vorurteile besser erkennen zu können und auch unbeabsichtigte Diskriminierung zu vermeiden.
Einen wichtigen Einblick in die afroamerikanische Kultur haben wir bei einer Free Walking Tour durch Harlem mit der famosen Lady Altavista erhalten, die Harlem stolz und selbstbewusst als einen der interessantesten (und saubersten) New Yorker Stadtteile präsentierte. Unsere Führerin zeigte uns nicht nur das Haus, in dem die Jazzsängerin Billie Holiday 1933 entdeckt wurde und den „Revolution Books“-Laden, sondern nannte uns viele Beiträge der schwarzen Bevölkerung zur Entwicklung der USA, die in der offiziellen Geschichtsdarstellung (und im Schulgeschichtsunterricht) keine Würdigung erfahren haben. Völlig unbekannt ist auch die Geschichte der „Black Wall Street“ und ihrer Zerstörung. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich in Greenwood, einem afro-amerikanischen Stadtteil von Tulsa, Oklahoma, eine Vielzahl von florierenden Geschäften und Unternehmen gebildet, so dass Greenwood als damals reichste schwarze Gemeinschaft der USA den Titel „Black Wall Street“ erhielt. Bis am 31. Mai und 1. Juni 1921 weiße Bürger von Tulsa mit Unterstützung der städtischen Behörden und durch Flugzeuge der Polizei, die Feuerbomben auf das Viertel fallen ließ, 35 Blocks von Greenwood niederbrannten. Die Unruhen mit Hunderten von Toten, 10.000 Obdachlosen und 6000 verhafteten schwarzen Bürgern wurden aus den städtischen Annalen gestrichen und totgeschwiegen und erst um den Jahrtausendwechsel, also nach 80 Jahren und wie es scheint mit wenig Erfolg von der Stadt Tulsa aufgearbeitet. Kein Weißer wurde je für die Taten zur Rechenschaft gezogen.
Eines der besonderen Erlebnisse unserer Reise war der Besuch der Gefängnisinsel Alcatraz vor San Francisco. Der Besuch des Gefängnisgebäudes wird durch einen Audio-Guide begleitet, der mit den Stimmen von vier ehemaligen Wächtern und vier Insassen die Geschichte des Gefängnisses und die einzelnen Gebäudeteile sehr anschaulich erläutert. Wie in einem Film erlebten wir den Alltag und das Grauen, das Alcatraz für die Gefangenen und für viele Wächter bedeutete. Diejenigen, zu deren Lieblingsfilmen „Flucht von Alcatraz“ von Don Siegel mit Clint Eastwood gehört, können sich die Originalzellen der drei Geflüchteten ansehen und (optisch) den Weg verfolgen, der diese durch den Versorgungsschacht auf das Gefängnisdach und in die Freiheit geführt hat. Als ich die letzten Worte des Audio Guide über die Schließung des Gefängnisses im März 1963 hörte, keimte kurz die Hoffnung in mir auf, dass der US-Strafvollzug vielleicht etwas aus den desaströsen knapp 30 Jahren gelernt hat, in denen Alcatraz als Gefängnis betrieben wurde. Die Schließung erfolgte allerdings ausschließlich wegen der hohen Betriebskosten und des zunehmenden Verfalls der Anlage. Und kurz darauf las ich in der Juni-Ausgabe des amerikanischen Rolling Stone eine ausführliche Dokumentation über den ungeklärten Tod des 23-jährigen Neil Early im Jahr 2015 im Kingman Gefängnis in Golden Valley, Arizona. Early – auf Bewährung vorbestraft wegen Drogenbesitz – war nach dem Diebstahl von DVDs bei Walmart zu fünf Jahren Gefängnis in Kingman verurteilt worden, einem Gefängnis, das, wie viele in den USA, von einer privaten Firma, der Management and Training Corp. (MTC) betrieben wurde. Da MTC wie jedes privatwirtschaftliche Unternehmen auf Gewinn ausgelegt war, sparte es vor allem an den Kosten, was in schlecht ausgebildetem, oft wechselnden und unfähigem Bewachungspersonal resultierte und zu völlig unkontrolliertem Verhalten und Gangbildung unter den Gefangenen führte. Als Early am 16. Januar 2015 von Mitgefangenen zu Tode geprügelt wurde, kam auf 200 Gefangene ein Wärter. Trotz aller Bemühungen und einer Klage gegen MTC konnten Earlys Eltern keine Erkenntnisse über den Tod ihres Sohnes erzielen. Und keiner der Täter wurde dingfest gemacht. Vorhandene Videoaufzeichnungen waren in der Zwischenzeit überspielt worden. Nach weiteren Vorfällen in Kingman vergab der Gouverneur von Arizona den Betrieb des Gefängnisses neu: an GEO, eine andere private gewinnorientierte Gefängnisgesellschaft.
Natürlich bieten die USA dem geneigten Reisenden auch eine Vielzahl von herausragenden kulturellen Höhepunkten. Großartig waren für uns das Art Institute of Chicago und das Museum of Modern Art in San Francisco, das sein Mutterhaus in New York architektonisch und ausstellungsmäßig weit in den Schatten stellt. Besonders interessant – neben einer umfassenden Magritte-Ausstellung – war im San Francisco MOMA die Exposition „The Train“. Am 8. Juni 1968, drei Tage nach seiner Ermordung, wurde Robert F. Kennedys Leichnam mit einem Zug von New York City nach Washington gebracht. „The Train“ beleuchtet dieses Ereignis durch drei verschiedene Arbeiten. Die erste sind Farbfotografien von Paul Fusco, der seinerzeit vom Zug aus die Vielzahl von trauernden Menschen jeden Alters und Sozialstands sowie jeder Hautfarbe aufgenommen hat, die Kennedy die letzte Ehre erwiesen. Die zweite Arbeit zeigt Fotos und Filme, die der niederländische Künstler Rein Jelle Terpstra zwischen 2014 und 2018 bei den damaligen Besuchern am Weg des Zuges gesammelt hat. Der französische Künstler Philippe Parreno schließlich hat – angeregt durch Fuscos Fotos – die Fahrt des Zuges in einem 70 mm Film nachgestellt. Der 50. Jahrestag der Zugfahrt passt gut in die aktuelle politische Lage, da Bobby Kennedy immer noch als Ikone des sozialdemokratisch gefärbten amerikanischen Linksliberalismus gilt.
Natürlich haben wir uns auf unserer Reise auch mit Donald Trump beschäftigt und die USA als ein zerrissenes Land erlebt, das der Präsident immer weiter spaltet. Die Trump-Lobby spielt ihre ganze Klaviatur bei den FOX-TV Sendern oder in Radiostationen, die sich „Patriot“ nennen, blieb für uns in der Öffentlichkeit aber eher unsichtbar. Ein Auto auf dem Highway mit „Donald Trump“-Aufklebern, ein Gast im Restaurant mit weithin sichtbarem „Donald Trump 2016“-Sweat-Shirt, aber niemand, der sich im Gespräch offen zu seinem Präsidenten bekannte. Die Kalifornier, die einem tatsächlich sehr liberal begegnen, sind so etwas wie das gallische Dorf, das sich gegen die Macht aus Washington DC wehrt. Und Presse, Radio, Buchläden und TV-Sender bemühen sich redlich und mit vielen Worten und Diskussionen, einen Kontrapunkt gegen den unberechenbaren Präsidenten zu setzen, aber es scheint eine gewisse Fassungs- und Hilfslosigkeit zu herrschen angesichts der Art, wie Trump seine Macht für all das ausnutzt, was er angekündigt hat. Sie sei beschämt, solch einen Präsidenten zu haben, sagte uns eine Kalifornierin, aber viele ihrer durchaus reichen Freunde hätten Trump gewählt, weil sie immer republikanisch stimmen würden. Als sehr bewegend empfanden wir die ABC-TV-Moderatorin, die am 14. Juni mit kaum zu bewältigender Wut und gegen die Tränen ankämpfend davon berichtete, dass an der US-Grenze zu Mexiko Kinder jeden Alters von ihren Eltern getrennt und in riesigen Lagern in der Wüste untergebracht wurden. Das auch hierzulande bekannt gewordene Schicksal der Kinder, von denen die meisten heute noch auf die Rückkehr zu ihren Eltern warten, und dies menschenverachtende Vorgehen der US-Administration und Grenzbehörden stimmt auch deshalb besonders nachdenklich, weil die Trennung der Kinder bereits am 7. Mai begonnen hatte und die Medien offensichtlich erst Mitte Juni von den Vorgängen erfahren und darüber berichtet haben, zu einem Zeitpunkt, als schon mehr als 2000 Kinder in Lager verfrachtet worden waren.
In vielen Städten, die wir besucht haben, spiegelt sich die soziale Spaltung des Landes in der großen Zahl von Obdachlosen wider, am unübersehbarsten in San Francisco. Nach Schätzungen leben bis zu 10.000 Obdachlose in San Francisco, bei einer Einwohnerzahl von 884.000. Folgende Gründe erscheinen uns besonders maßgeblich für diese hohe Zahl: Etwa 60 Prozent der Betroffenen haben vor ihrer Obdachlosigkeit in San Francisco gelebt und gearbeitet. Sie konnten also entweder ihre Wohnung aufgrund ansteigender Mieten nicht mehr finanzieren oder die Wohnung wurde verkauft (wie es heißt oftmals an vermögende Silicon Valley Mitarbeiter) – ein Mieterschutz bei Verkauf besteht in den USA in aller Regel nicht. Daneben sind viele Obdachlose psychisch krank und aufgrund der Schließung von Kliniken, in denen sie zuvor betreut wurden, auf der Straße gelandet. Weiterhin steigt die Zahl Obdachloser dadurch, dass andere Städte ihren Obdachlosen One-Way-Bustickets an die Westküste geben und diesen die klimatischen Bedingungen in San Francisco entgegen kommen. (Allerdings sendet auch San Francisco mittlerweile Obdachlose per Busticket in andere Städte.) Schließlich bietet San Francisco mit dem „Healthy San Francisco“-Programm im Gegensatz zu den meisten anderen Städten eine freie Gesundheitsversorgung für alle Bewohner, unabhängig von Staatsangehörigkeit, Zuwanderung, Beschäftigung oder Gesundheitsstatus, die somit auch den Obdachlosen offensteht.
Die Stadt investiert zudem stark in die Schaffung bezahlbarer Wohnungen, die Einrichtung neuer Notunterkünfte, Beratungsstellen sowie in Drogenhilfsprogramme, und die Bewohner zeichnen sich durch eine unglaubliche Toleranz und Hilfsbereitschaft aus, was sich auch in der großen Zahl von privaten Hilfsorganisationen widerspiegelt. Vor allem aber strömen die Einwohner von San Francisco eine große Gelassenheit aus und die Zuversicht, das Problem der Obdachlosigkeit bewältigen zu können.
Was bleibt nach mehr als sechs Wochen USA? Die Fahrt durch wunderbare, ständig wechselnde Landschaften, das Staunen über geologische Weltwunder, die es in dieser Form nirgendwo auf der Welt zu finden gibt, glücklich machende Tierbeobachtungen, einmalige kulturelle Höhepunkte, freundliche Menschen aus vielen Ländern und Kulturen, die allen Widrigkeiten zum Trotz gut zusammenarbeiten und -leben, und die Betonung von Toleranz und gegenseitigem Respekt, viel öfter, als man es vermuten würde.
Und der „4-Way Stop“, der ein gutes Bild für das Zusammenleben in einer immer schwieriger werdenden Welt ist: überhaupt einmal anhalten, genau hinschauen, Rücksicht nehmen, sich wortlos abstimmen, nach klaren Regeln weiterfahren.