21. Jahrgang | Nummer 18 | 27. August 2018

Wagner in Bayreuth: Schwitzen und Genießen

von Joachim Lange

Zu diesem Festspieljahrgang gehört ein kleines Jubiläum. Es wurde eher nebenbei erwähnt als wirklich begangen. Zehn Jahre ist Katharina Wagner Festspielchefin. Erst zusammen mit ihrer Halbschwester Eva und nach deren Ausscheiden allein beziehungsweise zusammen mit Christian Thielemann als musikalischem Direktor. Die Protagonisten der anderen Wagner-Stämme grollen, wenn sie es überhaupt noch tun, nur leise. Die Rechnung von Wolfgang Wagner ist aufgegangen. Die Festspiele sind noch immer in Familienhand. Da Katharina im erlernten Beruf Opernregisseurin ist, hat sie in ihrem zehnten Jahr einen Nibelungen-Ring inszeniert. Na ja, nicht so richtig – aber für die Kinderoper, die sie ziemlich erfolgreich gleich bei ihrem Amtsantritt auf dem Grünen Hügel etabliert hat. Ihre (nach den Meistersingern) zweite große Festspiel-Inszenierung „Tristan und Isolde“ läuft das dritte Jahr, reift musikalisch, aber auch szenisch. Wenn die Wagnerurenkelin bei der Wiederaufnahme vor den Vorhang kommt, erntet sie immer noch ein paar Buhs. Das ist das Los aller ambitionierten Regisseure.
Als Festspielchefin steuert sie einen maßvoll programmatischen Erneuerungskurs. Diesmal mit einer eigens in Auftrag gegebenen Uraufführung: Klaus Langs minimalistische Oper „der verschwundene hochzeiter“. Aufgeführt in einem ehemaligen Kino in der Stadt. Das gehört zum „Diskurs Bayreuth“, der sich mit Augenmaß und endlich auch systematisch mit der Geschichte der Festspiele und ihrer Verbindung zum Wagnerfanatiker Hitler kritisch auseinandersetzt. Das ist alles noch im Werden, aber auf einem guten Weg.
Wenn Katharina als Festspielchefin heute nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt wird, dann liegt das auch an einer Programmpolitik, die dem, was es in der mitteleuropäischen Opernszene so gibt, nicht hinterher hinkt. Von Christoph Schlingensief und dann Stefan Herheim als „Parsifal“-Regisseure über Barrie Kosky als Dompteur der „Meistersinger“ bis Tobias Kratzer für „Tannhäuser“ im nächsten Jahr. Ein verzagtes Auf-Nummer-Sicher ginge anders. Und wenn dann mal ein anvisierter Regisseur die Waffen streckt, dann kann daraus ein Geniestreich werden. Frank Castorfs genialischer Ring über den Verlust der großen Utopien ging (ehrlich gesagt: zum Glück) eine Absage von Wim Wenders voraus.
Für den aktuellen „Lohengrin“ war Alvis Hermanis vorgesehen. Aber dem Letten ist ganz Deutschland zu flüchtlingsfreundlich. Vielleicht ahnte er aber auch, dass es ihm wie seinem Nachfolger Yuval Sharon gehen würde, der neben dem Leipziger Malerstar Neo Rauch als Ausstatter mit seinem Regiebeitrag in der Wahrnehmung fast unterging. In Sachen Krisen-Management brachte ausgerechnet der für den Schwanenritter Lohengrin engagierte Tenorstar Roberto Alagna drei Wochen vor der Premiere die Festspielleitung ins Schwitzen. Der exzentrische Sänger ließ verlauten, dass er den Text nicht habe lernen können. Sprachs und kam gar nicht erst. Da kann man nur sagen: selber schuld! Aber Christian Thielemann kennt „seine“ Wagnersänger. Also überredete er den Polen Piotr Beczała zu seinem heftig gefeierten Debüt auf dem Grünen Hügel! Ein Retter in höchster Not, auf der Bühne und für die Festspiele.
Die vom Feuilleton früher oft beschworene Krise des Wagnergesangs gibt es nicht. Hier hat sich (wieder) ein Niveau etabliert, das in der Wagner-Welt an der Spitze mitspielt. Bei den Stücken, die 2018 auf dem Programm stehen, gibt es herausragende Beispiele für das hohe Niveau, auf dem Wagnersänger heute vokale und szenische Herausforderung miteinander verbinden können. Im „Lohengrin“ Anja Harteros als Elsa oder der bewährte Hügelrecke Georg Zeppenfeld als König Heinrich. Die nach 18 Jahren als Ortrud zurückgekehrte Waltraud Meier ist ein personifizierter Brückenschlag zwischen dem einst und jetzt. In Uwe Erik Laufenbergs Nahost-„Parsifal“ beweisen Andreas Schager sein mittlerweile erreichtes Weltklasseformat in der Titelpartie und Günther Groissböck das seine als Gurnemanz. In Katharina Wagners „Tristan“ bewähren sich nicht nur Stephen Gould und Petra Lang in den Titelpartien, sondern auch Iain Paterson (Kurwenal) und Christa Mayer (Brangäne). Von René Papes König Marke ganz zu schweigen.
In der ersten Wiederaufnahme von Barrie Koskys „Meistersingern“ bedient natürlich der Publikumsliebling Klaus Florian Vogt als Walther von Stolzing seine Fans. Michael Volle und Martin Kränzle bestechen mit wirklich faszinierenden Porträts von Hans Sachs und dessen Gegenspieler Beckmesser.
Auch in der quasi auf Wunsch eines einzelnen Herrn noch einmal reaktivierten „Walküre“ aus dem im letzten Jahr schon abgespielten Castorf/Denic Ring kehrte Catherine Foster zurück, der man in den Ring-Jahren bei ihrem Reifen zur Weltklasse-Brünnhilde zusehen konnte. Das mit dieser Walküren-Wiederaufnahme ein Bayreuther Tabu gebrochen wurde (dort gibt es den Ring ganz oder gar nicht) ist Ex-Tenorissimo Plácido Domingo geschuldet, der sich in seiner eifrig betriebenen Alterskarriere den Bayreuther Graben zumuten wollte. Dafür musste er lautstarken Buhs einstecken. Ansonsten beherrschten gestandene Profis (wie Axel Kober beim „Fliegenden Holländer“ oder Semyon Bychkov beim „Parsifal“) oder so hochkarätige Wagnerdirigenten wie der musikalische Chef der Pariser Oper  Philippe Jordan (Meistersinger) und natürlich Christian Thielemann bei der Tristan-Musik und beim Lohengrin den Graben oft beglückend.
Beim neuen „Lohengrin“ lieferte Thielemann den überzeugendsten Teil des Gesamtkunstwerks. Auf der Bühne dominierte der Maler Neo Rauch. Dabei blieb jede Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte (oder auch nur ihr Mitdenken), aber letztlich auch das Theater auf der Strecke. Dass der Amerikaner Yuval Sharon eingesprungen ist, muss man ihm hoch anrechnen. Gegen die schon vorgegebene starke optische Setzung durch Rauchs Bildwelt freilich hatte er kaum eine Chance. Er muss die in den Folgejahren in der „Werkstatt Bayreuth“ erst noch nutzen.
Dem auf der zweidimensionalen Leinwand einfallsreichen Erzähler von phantastisch surrealen Alptraum-Geschichten ist beim Sprung in den Raum nur die Behauptung gelungen. Vor einem großen Rundhorizont mit wolkendräuender Landschaft findet sich ein hingeträumtes Umspannwerk. Wenn bei Lohengrins wundersamen Erscheinen Blitze durch die Leitungen zucken, deutet alles auf Kraftzentrum für eine Erneuerung. Eine Verheißung aus der Zukunft? Für Menschen, für die Insektenflügel die Insignien von Macht sind? Wenn Elsas Gegenspieler Telramund und seine Frau Ortrud im zweiten Akt ihren kleinen Staatsstreich gegen den Sieger im Gottesgericht, der seinen Namen geheimhalten muss, planen, dann machen sie das im diffusen Nebel hinter sich bewegendem Schilf. Beim großen Aufmarsch der Truppen dann, die der König für seinen Krieg braucht, hält ein Maler die erstarrte Szene mit dem posenden, detailverliebt a la Delfter Kachelblau kostümierten Chor fest. Auf dem Bild sieht man aber nur die Bühne ohne Menschen. So viel Selbstironie bleibt Ausnahme. Zum Schluss bekommen die Brabanter nicht Elsas Bruder Gottfried als „Führer“, sondern ein gesichtsloses grünes Männchen. Das haut die Brabanter alle um. Nur Elsa und Ortrud schreiten hinter ihm auf die Rampe zu. Die musikalische Seite wurde unisono gefeiert – Ausstatter und Regisseur kassierten Buhs. Für ein Märchen, bei dem – bildlich gesprochen – der Kaiser keine Kleider anhatte.
Wie man ein Werk dezidiert politisch inszeniert, konnte man dann mehr oder weniger dezidiert an den folgenden Wiederaufnahmen studieren. Ob Parsifal, Tristan, Holländer oder Walküre – das war jedes auf seine Art mehr als Bebilderung.
Barrie Koskys Meistersinger sind etwa eine Melange aus überbordender Kostümopulenz, biographischer Überblendung der Geschichte mit der des Komponisten und seiner Umgebung und eines zeithistorischen Rahmens, der heute noch mehr zu den Verwerfungen unserer Gegenwart passt, als es schon im vorigen Jahr bei der Premiere der Fall war. Kosky gelingt der Bogen von quicklebendiger Komödie zu einer Verortung im Politischen. Ab dem zweiten Akt ist der Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse der Rahmen und in der Prügelfuge taucht als übergroßer Popanz das Juden-Klischee der Nazis als Pointe auf. Neben der Opulenz, die auch jedem Alt-Wagnerianer das Herz höher schlagen lässt, sind diese Meistersinger ein Lehrbeispiel für eine packende Personenregie. Dem Lohengrin-Team könnte das als Weiterbildungsveranstaltung dienen.