von Dieter B. Herrmann
Kosmonauten, Astronauten, Taikonauten, Spacionauten oder wie immer man sie künftig noch nennen wird, sind eine auf der ganzen Welt beliebte Berufsgruppe. Sie sind wagemutig, hoch gebildet, hartnäckig, diszipliniert und – sehr selten. Letzteres macht sie nur noch interessanter. Kein Historiker kann die Frage beantworten, wie der erste Bäcker, der erste Maler oder der erste Koch der Menschheit hieß. Den Namen des ersten Kosmonauten kennt jeder: es war der Sowjetbürger Juri Gagarin, der am 12. April 1961 zum ersten Mal in der engen Raumkapsel von Wostok um die Erde flog. Die Zahl der Weltall-Bezwinger beträgt nach fast 60 Jahren bemannter Raumfahrt gerade mal 558 Personen.
Gagarins Flug von rund 108 Minuten Dauer war in jeder Hinsicht ein Paukenschlag. Mit ihm wurde die Ära der bemannten Raumfahrt eröffnet, von der nicht nur Science Fiction Autoren, sondern auch schon die wissenschaftlichen Vordenker Konstantin Ziolkowski und Hermann Oberth geträumt hatten. Politisch bedeutete der Gagarin-Flug inmitten des Kalten Krieges für die Sowjetunion (nach dem Start von Sputnik 1 im Oktober 1957) zum zweiten Mal eine Demonstration ihrer Überlegenheit im All, was in den USA nach dem Sputnik-Schock nun den Gagarin-Schock auslöste. Das anschließende weltweite Auftreten des jungen sympathischen Gagarin verstärkte zweifellos noch den propagandistischen Effekt seines Raumfluges.
Dass beide Seiten dabei auch ihre militärische Überlegenheit im Hinterkopf hatten, versteht sich von selbst. Der amerikanische Präsident John F. Kennedy hatte es 1961 nach eigenem Bekunden satt, die USA hinter der Sowjetunion nun schon seit vier Jahren als Zweitplatzierten in Sachen Raumfahrt zu sehen und verkündete bereits sechs Wochen nach dem Gagarin-Flug das US-amerikanische Apollo-Mondlandeprogramm mit dem noch im laufenden Jahrzehnt Amerikaner auf den Mond und unversehrt wieder zurück gebracht werden sollten. Doch noch ehe dieses Mammutunternehmen gelang und Neil Armstrong sowie Buzz Aldrin am 21. Juli 1969 ihre Füße auf die Oberfläche des Erdtrabanten setzten, hatte die Sowjetunion auf vielen Gebieten der Raumfahrt die Nase vorn. Sie realisierte die ersten Doppel- und Dreifachflüge (1962/1964), brachte mit Valentina Tereschkowa die erste Frau ins All (1963), Alexej Leonov stieg als erster Mensch in den freien Weltraum aus (1965), und auch die erste weiche Mondlandung (1966) sowie das sensationelle Aufsetzen einer Sonde auf der Gluthöllenoberfläche des Planeten Venus mit Datenübermittlung zur Erde (1965) gingen auf das Konto der UdSSR. Das begeisterte die Menschen in aller Welt und wirkte so ohne Parolen und Holzhammer ganz von selbst propagandistisch. Das trifft natürlich ebenso auch auf die technische Glanzleistung der USA mit ihrem Apollo-Programm zu, in dessen Verlauf insgesamt 12 Astronauten den Mond betraten und dort wissenschaftliche Untersuchungen vornahmen.
Noch während der laufenden Apollo-Flüge stieß die Sowjetunion ein ganz neues Tor für die Forschung auf, indem sie mit dem Bau von Raumstationen begann, so etwas wie Forschungslabore in der Erdumlaufbahn, die für den längeren Aufenthalt von mehreren Kosmonauten geeignet waren. Der Weg zum Erfolg erwies sich als schwierig. Von den insgesamt zwischen 1971 und 1982 gestarteten Raumstationen Saljut 1 bis Saljut 7 scheiterten viele Projekte und es kam sogar zu Menschenopfern. Doch die Station Saljut 6 (Start: 29. September 1977) wurde als erste wiederauftankbare modulare Raumstation zu einem großen Erfolg und blieb insgesamt fünf Jahre im Einsatz. Später folgte die sowjetische MIR-Raumstation, die von 1986 bis 2001 das größte von Menschenhand geschaffene Objekt im Erdorbit darstellte und zu den bedeutendsten Leistungen der sowjetischen und russischen Raumfahrt zählt.
Einen wichtigen Schritt in Richtung Internationalsierung der bemannten Raumfahrt unternahm die UdSSR mit ihrem Interkosmos-Programm, das schon bald nach dem Start von Sputnik 1 aufgelegt wurde. Im Rahmen dieses Programms erfolgten auch erstmals die Starts von Kosmonauten, die weder aus den USA noch aus der UdSSR stammten – ein erfreuliches Novum nach 17 Jahren bemannter Raumfahrt. So kam auch Sigmund Jähn, der Jagdflieger der Nationalen Volksarmee der DDR, als 90. Raumfahrer überhaupt, mit seinem Kommandanten Valerij Bykowskij in die Erdumlaufbahn. Zuvor hatte die sowjetische Seite den Tschechen Vladimir Remek und den Polen Mirosław Hermaszewski zur Station Saljut 6 und zurückgebracht.
In der Archenhold-Sternwarte hatten wir damals eine Vorabmeldung erhalten, dass mit dem Start eines Kosmonauten aus der DDR am 26. August 1978 zu rechnen sei. Vorsorglich hatte ich ein Tonbandgerät zum Mitschnitt einer entsprechenden Rundfunkmeldung bereitgestellt. Als die Meldung tatsächlich kam, lief in unserem Kleinplanetarium gerade eine gut besuchte Veranstaltung mit ahnungslosen Interessenten. Ich unterbrach die „Himmelsschau“ und spielte die Meldung vor. Das Publikum brach spontan in Beifall aus. Ein Berliner meinte: „Donnerwetter, jetzt sind wir ooch dabei!“. Dass von einem westdeutschen Astronauten in absehbarer Zeit keine Rede war, wurde von vielen wieder als ein Zeichen der Überlegenheit des eigenen politischen Systems gewertet.
Für die DDR-Bürger brachte der Start von Jähn aber noch eine weitere Überraschung. Die Tageszeitung „Neues Deutschland“ titelte am folgenden Tag: „Der erste Deutsche im All – ein Bürger der DDR“. Wir waren also plötzlich ganz offiziell Deutsche, eine nationale Zuweisung, die zuvor im Allgemeinen nur die Westdeutschen für sich in Anspruch genommen hatten. Als erster Westdeutscher startete Ulf Merbold übrigens erst fünf Jahre später 1983 an Bord des Space Shuttles Columbia.
Jähn hatte während seines knapp achttägigen Fluges bis zum 3. September mit 125 Erdumrundungen ein umfangreiches Forschungsprogramm zu bewältigen, dessen inhaltliche Vorgaben von zahlreichen wissenschaftlichen Institutionen der DDR unter Federführung der Akademie der Wissenschaften entwickelt worden waren. Besonders die vom VEB Carl Zeiss Jena entwickelte Multispektralkamera (MKF-6) brachte für die Fernerkundung der Erde wichtige Resultate und lieferte später auch die Datenbasis für Jähns Dissertation.
Als Jähn gemeinsam mit Bykowskij am 21. September 1978 in Begleitung von Erich Honecker und weiteren ranghohen Vertretern aus Politik und Wissenschaft vom Flughafen Schönefeld durch (Ost-)Berlin fuhr, war auch die Archenhold-Sternwarte als einer der „Haltepunkte“ ausgewählt worden. Hier war eine eilfertig von dem Bildhauer Gerhard Rommel geschaffene Jähn-Büste aufgestellt, als erstes Objekt des späteren „Hains der Kosmonauten“, die feierlich enthüllt werden sollte. Jähn war es aber offenbar peinlich, als lebender Mensch der Enthüllung seiner eigenen Büste beizuwohnen. Viele haben den sich anschließenden „Rummel“ um Sigmund Jähn und seine Raumfahrtmission damals als stark überzogen betrachtet. Ihn selbst – die Bescheidenheit in Person bis heute – hat dies alles vermutlich sehr belastet.
Nach der Wende bereitete es den westdeutschen Medien zunächst erhebliche Mühe, die Erstleistung von Jähn anzuerkennen. In einem damals gerade erschienenen Lexikon kam der Name Jähn überhaupt nicht vor, während Ulf Merbold als der „erste Deutsche im All“ notiert war. Doch das änderte sich allmählich unter dem Druck der Tatsachen und heute gilt Jähn ebenso selbstverständlich als der erste Deutsche im All, wie der seinerzeit verkannte und im Westen lange Zeit ignorierte Russe Ziolkowski als „Vater der Raumfahrt“. Der Jahrestag von Gagarins Start wird heutzutage sogar weltweit als „Yuri’s Night“ mit zahlreichen Veranstaltungen begangen.
Sigmund Jähn ist bis heute eine populäre Persönlichkeit, um die sich Journale, Rundfunk- und Fernsehsender bemühen. Er weiß dies alles mit der Disziplin und Gelassenheit eines echten Raumfahrers hinzunehmen. Nach der Wende wirkte er als gefragter Berater der Gruppe von Raumfahrer-Kandidaten des „Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt“ (DLR) und ebenso für die Europäische Weltraumagentur ESA. Er betreute im Sternenstädtchen bei Moskau die deutschen Astronauten Klaus-Dietrich Flade, Ulf Merbold, Thomas Reiter und Reinhold Ewald, die allesamt zur Mir-Station flogen. Sie sind voller Hochachtung für seine Leistung. Wenn man Sigmund Jähn mit einem von ihnen trifft, spürt man die freundschaftliche Sympathie, die sie verbindet. So ist es auch kein Wunder, dass Sigmund Jähn unlängst die weite Reise nach Baikonur auf sich genommen hat, um auf Einladung von Alexander Gerst dessen Start zur Internationalen Raumstation ISS beizuwohnen.
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