21. Jahrgang | Nummer 18 | 27. August 2018

Otto Wagner: Wien feiert seinen Baumeister der Moderne

von Reinhard Wengierek

Er starb am 11. April vor hundert Jahren, gilt als Jahrhundertfigur der Architektur- und Designgeschichte und wird gefeiert als „Vater der Moderne“: Der Österreicher Otto Wagner, Wegbereiter eines ästhetischen Umbruchs, geboren im Todesjahr Schinkels 1841, gestorben 1918, am Endes des Habsburgerreichs.
Eigentlich war er ein Grenzgänger zwischen zwei auseinander strebenden Polen der Moderne, nämlich dem zweckhaft-Rationalen (das später im Bauhaus kulminierte) und dem klassisch Schönen. Beides aber wollte Wagner nicht gegeneinander ausspielen, vielmehr suchte er, es kreativ in eins zu zwingen. So entwickelte er den bahnbrechenden Gegenentwurf zum wuchtigen, maßlos überdekorierten Historismus der Wiener Ringstraßenzeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Kaiser Franz Joseph die Festungsanlagen seiner Hauptstadt abreißen ließ, um den daraufhin neu entstandenen, vielspurigen Boulevard rund um den Wiener Altstadtkern in prunkvollstem Stil-Mix bebauen zu lassen. Einerseits neue Sachlichkeit, anderseits schwelgte Wagner im Ornament („seines“ Jugendstils), schwärmte lebenslang vom alten Guten, von der Schatzkammer der Überlieferung; seine Idole: Fischer von Erlach, Schinkel, Semper.
Wagners Credo, das er als einer der weltweit Ersten 1896 in seinem Manifest „Moderne Architektur“ veröffentlichte und das ihn zum Wegbereiter des Funktionalismus machte: Die formale Gestaltung müsse sich aus der Funktion ableiten, die Konstruktion gemeinsam mit dem Material die Ästhetik bestimmen; Funktionsloses könne mithin nicht „schön“ sein. Seine Kurzformel: „Licht, Luft, Zweck, Komfort“. Damit wurde er zur Gallionsfigur der 1879 gegründeten Künstlervereinigung Sezession, die sich gegen den üblich wuchernden Eklektizismus, überhaupt gegen althergebracht protzende Kunstauffassungen richtete und den heutzutage längst weltweit bewunderten „Wiener Jugendstil“ begründete, der das dekorativ Schöne und das Zweckgebundene organisch miteinander verband. Sein höheres, allumfassendes Kunstideal goss er in die poetische Formel „Kunst und Liebe ‑ die göttlichen Lebenstriebe“.
Da war Wagner bereits seit drei Jahren Kaiserlicher Architekturbeauftragter und hatte den Zuschlag bekommen für ein sensationelles Infrastrukturprojekt, nämlich die Planung und den Bau der Wiener Stadtbahn – 36 Stationsgebäude auf 38 Kilometern, 78 Brücken, 42 Viadukte, 15 Tunnel und Galerien. Das Design bis hin zur Möblierung, Beleuchtung und Typographie prägt noch heute das Stadtbild – wie auch die Bauten für die Donaukanalregulierung. Dazu seine spektakulären, zu Ikonen des Jugendstils avancierten Großbauten wie das monumentale Postsparkassenamt (1903–1910) oder die Kirche St. Leopold am Steinhof (1902–1904) nebst den dazugehörigen Funktionsgebäuden des so genannten Otto-Wagner-Spitals, der in einem 75-Hektar-Park errichteten „Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Geisteskranke“. ‑ Die Kirche wirkt als machtvoller Kontrapunkt zur monumental barocken Karlskirche im Stadtzentrum und gilt als erster moderner Sakralbau – ein Schlüsselwerk des zwanzigsten Jahrhunderts.
Dem Oberbaurat Professor Otto Wagner als Schule machender Stilbildner aber auch zukunftsweisender Stadtplaner von Weltgeltung sind – zum 100. Todesjahr – zwei große Ausstellungen gewidmet. Im Wiener Museum für angewandte Kunst an der Ringstraße (MAK) sowie im Wien-Museum am Karlsplatz. Da sieht man, wie bei Wagner-Bauten das Schöne und Praktische raffiniert in eins kommen und als überwältigendes Gesamtkunstwerk wirken können ‑ vom sinnvollen Kubus mit seiner ornamentbestückten Fassadengliederung über die innenräumliche Ausstattung bis hin zur Gestaltung der Beleuchtung, Geländer, Türklinken oder den praktischen Treppenstufenhöhen von genau 120 Millimetern. Mal ausprobieren: schon bei einigen Zentimetern mehr kommt man treppauf sehr viel schneller ins Schwitzen…
„Eins aber wird unbedingt bei jeder Großstadtregulierung zur Hauptsache werden müssen: Kunst und Künstler zu Worte kommen zu lassen, welche den die Schönheit vernichtenden Einfluss des ‚reinen‘ Ingenieurs für immer zu brechen und die Macht des Vampyrs ‚Spekulation‘ aufs Engste einzudämmen, der heute die Autonomie der Großstädte illusorisch macht“, schrieb Wagner 1911 in seinem international Furor machenden Buch „Die Großstadt“. Und wetterte eindringlich gegen den „erbärmlichsten Grundwucher“ sowie die im großen Stil sich anbahnende Dominanz „des blinden Zufalls“, „der künstlerischen Impotenz“, „der Kakophonie unterschiedlichster Bauten, die sich gegenseitig zu übertrumpfen versuchen“.
Gerade in der Stadtplanung zeigt die Ausstellung „Post Wagner“ im MAK in welche Sackgassen ein radikaler Formalismus treiben kann. So das Beispiel eines Stadtentwurfs aus den späten 1940er Jahren für das Nachkriegsberlin von Le Courbusier – Abriss ganzer, freilich ruinöser Stadtquartiere im Zentrum westlich vom Gendarmenmarkt und das Auffüllen der Brache mit stramm in Reih und Glied stehenden, gewaltigen Betonriegeln für Wohnungen. Konzentrierte Massenquartiere also. Ein zwar gut gemeinter Versuch, mit rein ingenieurtechnischen Mitteln der grassierenden Wohnungsnot beizukommen, aber doch letztlich ein menschenverachtender Vorschlag.
Die beiden aufwändig inszenierten Wiener Wagner-Großausstellungen werfen einen umfassenden Blick aufs faszinierende Labor der Postmoderne, aufs Geglückte wie aufs Missverstandene. Sie demonstrieren nachdrücklich, was Wien und die Welt diesem Großfürsten der Architektur sonderlich verdankt, nämlich das gegenwärtig gern vernachlässigte Zusammendenken des Poetischen und des Historischen beim Bauen von Gebäuden und Städten. Wobei die „Post Wagner“-Schau im Wien-Museum Wagners Fortwirken bei seinen Schülern wie beispielsweise Josef Hoffmann (1870–1956) oder Adolf Loos (1870–1933) sonderlich ausstellt.
Parallel dazu eine weitere prächtige Schau im weltweit einzigartigen Möbelmuseum, dem Wiener Hofmobiliendepot, gegründet 1747 von Kaiserin Maria Theresia („Rumpelkammer der Monarchie“) und heute ein aufwändig sanierter, hochmoderner Schau- und Archivkomplex mit Restauratorenwerkstatt ‑ drei Jahrhunderte Wohnraumkultur auf 4.500 Quadratmetern mit 6.000 Objekten. Eingelagert sind weitere 60.000 von alltäglichem Gebrauchsgegenstand bis hin zu kompletten Ensembles, darunter die größte Biedermeiersammlung der Welt.
So zeigt das Depot jetzt gesondert kostbare Design-Stücke von Hoffmann & Loos, den von Wagner angeführten Wegbereitern einer modernen Formgebung. Eine Extra-Abteilung, gestaltet von tschechischen Kollegen, demonstriert Loos‘ erstaunlich breites Wirken in der Urquell-Stadt Pilsen, seine schon stark aufs Bauhaus weisende Formung großbürgerlicher Behausungen. Insgesamt also ausgewählt feine Edelholz-Solitäre der neuen Sachlichkeit, aber auch komplette Wohnungseinrichtungen – beispielsweise ein Speisezimmer für Berta Zuckerkandl, der prominenten Saloniere und Journalistin, die durch das Porträtgemälde von Gustav Klimt weltberühmt wurde. Über ihren Freund Otto schrieb Berta: „Er war eine echt österreichische Figur: Epikureer, Optimist, Revolutionär, Skeptiker, Weltmann, Diplomat; gleichzeitig ein Draufgänger bis zur Grobheit. Und er war ein Prophet. Wagner verkündete den Baustil des 20. Jahrhunderts.“
Manches von Wagner ist im 21. Jahrhundert längst Allgemeingut; etwa das von der Funktion bestimmte gute Design sowie der Wagnersche Vierklang „Licht, Luft, Zweck, Komfort“. Zugleich jedoch wurde eine Befürchtung Wagners weit verbreitete Wirklichkeit: Das rigide Verdrängen des (Bau-)Künstlers mit seiner Phantasie, seinem Einfallsreichtum zugunsten der Dominanz des Ingenieurs mit dessen vom Computer gesteuerter „künstlerisch impotenter“ Investoren-Architektur, die allein auf maximale Flächennutzung und also maximalen Gewinn spekuliert und alles Poetische, Schöne hintanstellt (oder schlimmstenfalls vermeidet). So verschandeln trotz städtisch installierter, hoch dotierter Bau- und Planungsdirektionen die öde Uniformität der Neubauquartiere sowie die platte Gleichförmigkeit der meisten Gesellschaftsbauten viele unserer Städte heutzutage. Kleingeistiges Sparen oder knallharte Gewinnsucht stehen dem so menschlichen, sinnlichen, großzügigen Wagner-Geist „Kunst und Liebe“ entgegen. Es gilt: Wieder mehr Wagner wagen. Oder: Zurück zur Baukunst.