von Renate Drommer
Was geschieht da eigentlich Tag für Tag vor unseren Augen?
629 aus Seenot gerettete Flüchtlinge irren auf dem Mittelmeer umher, werden auf ihrem Schiff von Hafen zu Hafen geschickt. Niemand will ihnen Schutz geben. Sie sollen draußen bleiben. Ist das die Botschaft des Abendlandes? Wir machen die Grenzen dicht. Amen.
Die auf der „Aquarius“ gefangenen Flüchtlinge sind ein Bild für den unheilvollen Zustand Europas. Ehe noch der Papst einschreiten kann, um christliche Nächstenliebe zu fordern, rettet ein Land die Ehre Europas. Die neue Regierung Spaniens öffnete den Hafen von Valencia.
Was geschieht da eigentlich Tag für Tag vor unseren Augen?
Nur wenig später treibt erneut ein Schiff, das keinen Hafen findet, im Mittelmeer. Diesmal sind 230 Flüchtlinge an Bord. Malta erbarmt sich schließlich, hat sich aber abgesichert. Alle Flüchtlinge werden auf die EU verteilt. Deutschland nimmt keinen einzigen.
Taumeln wir schlaftrunken in unser Unglück?
Da putscht der deutsche Innenminister (bayerischer Herkunft) die Flüchtlingsfrage zur Nationalen Frage hoch. Er bedient die rechtspopulistische Stimmung, die von Österreich, Italien und Ungarn herüberschwappt. Die AfD indes kann ruhig abwarten. Sie weiß, dass der bayerische Wähler das Original liebt und nicht den Trittbrettfahrer. Der alte Fuchs Gauland zieht die Strippen im Vordergrund. Im Hintergrund wartet der eloquente junge Mann mit dem verklemmten Mädchengesicht auf seine Stunde. Wer Faschismus, mehr als 60 Millionen Tote und Auschwitz als Vogelschiss der Geschichte bezeichnet, gehört nicht in ein deutsches Parlament.
Lassen wir uns nicht verdummen!
Wer saß all die Jahre auf der schwarzen Null? Wer hat den schlanken Staat verordnet? Wer hat dafür gesorgt, dass die Bürgerämter unterbesetzt sind, kein Polizist auf der Straße zu finden ist, die Ärzte in den Dörfern fehlen und die Lehrer in den Schulen? Wer hat die Lebensläufe der DDR-Bürger auf den „Unrechtsstaat“ und die „Stasi“ reduziert? Wer hat den Ostdeutschen blühende Landschaften versprochen und sie dann abgehängt? An Flüchtlinge war damals noch nicht zu denken!
Erinnern wir uns!
Die ersten Flüchtlinge kamen aus Irak und Afghanistan, Länder, in denen die USA blutige Regimewechsel veranstaltet hatten. Sie kamen übers Mittelmeer und landeten auf der kleinen Insel Lampedusa. Dort wurden sie aufgenommen und versorgt. „Mare Nostrum“, hieß das italienische Hilfsprogramm. Als die Zahl der Ankommenden stieg, bat die italienische Regierung die EU um Hilfe. Niemand hörte hin. Man hatte sich ja für den Ernstfall abgesichert. Das Gesetz, das die Kernländer schützen sollte, ist benannt nach der Stadt, in der es ausgeheckt wurde: Dublin. Darin steht schwarz auf weiß, Flüchtlinge müssen bleiben, wo sie ankommen und Asyl beantragt haben: in Italien, Griechenland, Malta und Spanien. Die ärmeren Länder an den Außengrenzen blieben allein mit dem Problem. Spanien baute einen hohen Zaun, in dem die Geflüchteten hängen blieben. Die überforderten italienischen Behörden winkten die Ankommenden irgendwann einfach weiter. 2015 standen die Flüchtlinge vor unserer Tür.
Aus der offenen Empfangskultur von damals ist nach drei Jahren kalte Abwehr geworden. Die Wohnungsmieten sind gestiegen. Wer hat Schuld? Die Flüchtlinge! Die Schulen sind marode. Wer ist schuld? Die Flüchtlinge! Lehrer fehlen, die Straßen sind schlecht, S-Bahnen fallen aus, die Busse sind unpünktlich. Die Liste der Missstände ließe sich endlos verlängern. So einfach wie billig. So populistisch wie gefährlich. Der Flüchtling als Sündenbock, er muss herhalten für alles, was bei uns schiefläuft. Und die AfD gießt genüsslich Wasser auf die Mühlen.
Lassen wir uns nicht den Verstand vernebeln!
Glaubt hierzulande irgendein Harz-IV-Empfänger, ein Zeitarbeiter oder ein Arbeitsloser, dass er auch nur einen Euro mehr im Geldbeutel vorfindet, wenn die Flüchtlinge verschwinden? Der Niedriglohn ist gewollt. Er macht unsere Produkte billig. Mit billigem tief gefrorenem Hühnerfleisch schütten wir Afrika zu. Kein einheimischer Bauer kommt dagegen an. Und dann wundern wir uns, wenn der Afrikaner an unserem Tisch mitessen will? Früher tauschten die weißen Eroberer billige Glasperlen gegen das Gold der Ureinwohner. Heute nehmen wir den Ländern Afrikas ihre wertvollen Mineralien und kostbaren Metalle ab. Wir unterstützen korrupte Regimes und nennen das Entwicklungshilfe und Bekämpfung von Fluchtursachen.
Öffnen wir doch die Augen!
Der deutsche Sparer bekommt schon seit langem auf sein kleines Guthaben keine Zinsen mehr. Die deutschen Banken kassierten indes Milliarden Euro für ihre Darlehen an Griechenland. Die Vermögen der Reichen sind in den letzten zehn Jahren drastisch gestiegen. Kurzarbeit, Leiharbeit, unter Tarif bezahlte Arbeit hat Konjunktur. Der Verteilungskampf wird härter. In dieser Situation ist der Flüchtling eine willkommene Bedrohung. Er lenkt ab von den Missständen, die durch den entfesselten neoliberalen Wirtschaftskurs verursacht wurden. Er lenkt ab von drohender Altersarmut. Zwanzig Jahre nach der deutschen Einheit sind die Ostrenten noch immer nicht angepasst. Die Schere zwischen arm und reich klafft jedes Jahr weiter auseinander.
Der Krieg in Syrien hat über eine Million Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Die meisten gingen nach Libanon, in das Land, das ihnen am nächsten liegt. Dort hausen sie in großen Zeltstädten. Oft fehlt es am Nötigsten, weil das UN-Hilfswerk von den reichen Ländern nicht die zugesagten Gelder bekommt. Es mangelt an Wasser und Medikamenten. Die Kinder besuchen keine Schule, Krankheiten grassieren. Aber die Versorgung der Flüchtlinge dort ist billiger als in Deutschland, so formulierte es jüngst eine Verantwortliche in einem öffentlichen Talk. Auch in der Türkei sitzen Tausende syrische Flüchtlinge fest, aufgehalten von dem Alleinherrscher Erdogan. Er lässt sich den Deal teuer bezahlen.
Gerade wurde der Haushalt für 2018 beschlossen. Wieder ist von der schwarzen Null die Rede. Die Löhne werden nicht erhöht und die Ost-Renten noch lange nicht angeglichen. Die fehlenden Pflegekräfte in den Krankenhäusern, die fehlenden Lehrer in den Schulen, wo sollen sie herkommen? Wenn die Regierung die Klimaziele wirklich ernst nehmen würde, müsste sie viel Geld investieren, um die wachsende Zahl der großen Trucks, die täglich über die Autobahnen rollen, zurück auf die Schiene zu bringen! Aber davon war nicht einmal die Rede. Gestiegen sind dagegen die Militärausgaben, um vier Prozent gegenüber dem Vorjahr auf insgesamt 38,52 Milliarden Euro. 2019 soll der Verteidigungshaushalt auf 42,9 Milliarden wachsen. Geld für den Krieg ist da. Gekürzt wird bei den Posten, die dem Allgemeinwohl zugutekommen: Gute Luft in den Städten, moderne öffentliche Verkehrsanbindung, neue Kindergärten und Spielplätze, Schwimmbäder und Turnhallen, funktionierende Bürgerämter und ausreichendes Personal in den Krankenhäusern.
Schauen wir genau hin!
Seit der Einführung von Hartz IV sorgte dieses System für soziale Ungleichheit und Spannung. Zurecht beschwert sich der langjährige Stahlschmelzer von Thyssen/Krupp, der durch die Fusion mit dem indischen Stahl-Konzern unverschuldet entlassen wird, dass er eines Tages bei Hartz IV landen wird, genau wie jemand, der noch nie gearbeitet hat oder einer, der Langzeitarbeitsloser ist oder aber ein Flüchtling, der hier niemals in die Sozialkassen eingezahlt hat. Viertausend deutsche Stahlschmelzer verlieren durch die Fusion der beiden großen Stahlkonzerne ihre Arbeit. Und nicht nur in der Stahlbranche werden Arbeitskräfte freigesetzt. Sie alle werden aus dem Hartz-IV-Topf versorgt. Sie alle erhalten eine soziale Absicherung, die gerade mal das Überleben sichert. Das erzeugt Druck. Druck, der gewollt ist. Jeder, der Arbeit hat, muss sich gut überlegen, was er sagt. Und was er tut. Kann er eine Lohnerhöhung verlangen, kann er sich gewerkschaftlich organisieren? Der soziale Druck ist ungeheuer. Er macht Angst. Angst, die einen Adressaten braucht. Die AfD nimmt schon lange kein Blatt mehr vor den Mund. Sie hat nur ein Thema: Das ist der Flüchtling!
Was geschieht da eigentlich tagtäglich vor unseren Augen?
Die freiwilligen Seenotretter werden beschuldigt, mit den Schleppern vor Libyen zu kooperieren. Sie müssen sich vor Gericht verantworten, ihre Schiffe werden beschlagnahmt. 483 Menschen mussten ertrinken, weil ihnen niemand zu Hilfe kam. Das Flugzeug der zivilen Seenotretter darf nicht mehr starten. Der Tod ist kalkuliert. Als vor fünf Jahren die ersten Flüchtlinge im Mittelmeer ertranken, ging ein Aufschrei um die Welt. Seither ist das Meer zum Massengrab geworden. Man spricht von zehntausend Toten. Die europäische Lösung für das Problem? Lager in Afrika. Die SPD sträubt sich noch ein wenig gegen den Namen. Auffang- oder Transitzentren wäre ihr lieber. Lager erinnert zu sehr an die deutsche Vergangenheit. In den Lagern der Nazis wurden unschuldige Bürger aus allen Ländern Europas wegen ihres Glaubens, ihrer Bräuche, ihrer Gesinnungen und ihres Widerstandes industriemäßig zusammengepfercht und vernichtet. In den Lagern rings um Europa sollen die Flüchtlinge aufgefangen und billig versorgt werden. Welch großartige humanitäre Lösung im 21. Jahrhundert.
P.S. Das letzte Schiff mit 400 Flüchtlingen darf nach tagelangem Feilschen in Italien landen. Fünfzigstückweise werden die Geretteten auf die EU Länder verteilt. Das Sterben auf dem Meer geht weiter. Eine gerechte europäische Lösung ist nicht in Sicht.
Was geschieht da eigentlich Tag für Tag vor unseren Augen?
Gerade erreichte uns die Nachricht, dass 80 „Weißhelme“ und ihre Familien in einer großangelegten Aktion aus Syrien über Israels Grenze gerettet und in die USA und Kanada gebracht werden sollen! In wessen Dienst mögen sie wohl gestanden haben?
Schlagwörter: Afrika, Dublin, Europa, Flüchtlinge, Renate Drommer, Syrien