von Stephan Jakubowski
Der G20-Gipfel liegt ziemlich genau ein Jahr zurück und ist in der öffentlichen Wahrnehmung stark verblasst und reduziert. Er wird zumeist nur noch als entfesseltes Krawallevent eines geschlossenen „schwarzen Blocks“ erinnert. Inhaltlich war der Gipfel schon währenddessen uninteressant und irgendwie war noch was mit „robustem Vorgehen“ der Polizei.
So einfach, so bitter, so gefährlich. Doch wie kann es sein, dass ein Gipfeltreffen, bei dem die Speerspitze der kapitalistischen Ordnung zusammenkam und der mit einem Sicherheitskonzept versehen wurde, das den feuchten Traum eines jeden Polizeistaatsvertreters übertraf, massenhaften Protest herausforderte und schließlich in Gewalt auf allen Seiten mündete, derart wenig Interesse an einer tiefgehenden Aufarbeitung erzeugt? Dabei war doch das von Olaf Scholz ausgerufene „Festival der Demokratie“, zu dem vorrangig die über 30.000 Beamten der Polizei und natürlich die Gipfelfraktionen eingeladen waren, ein Spektakel, das die Emotionen in Deutschland hat hoch kochen lassen wie kaum ein anderes. Man sollte meinen, die polarisierten Bürger wären auch im Nachgang sehr daran interessiert, was nun weiter passiert. Die grenzenlosen Solidarisierungen mit „unserer Polizei“ und unendliche Diskussionen über die Illegitimität von (nichtstaatlicher) Gewalt waren doch Bekenntnisse zur demokratischen Gesellschaft – es ging schließlich um „unsere“ Rechtsstaatlichkeit und „deren“ Angriff darauf!
Und tatsächlich stellt das „Schaufenster moderner Polizeiarbeit“ unbestreitbar eine multidimensionale Zäsur dar: Im Bereich der politischen Einflussnahme der Polizei als Institution, ihrer praktischen Einsatztaktik und der Ignoranz gegenüber Grundrechten im Schulterschluss mit einer Politik, die mit Forderungen nach harten Strafen und gleichzeitigen Äußerungen wie „Polizeigewalt hat es nicht gegeben“ einseitig Einfluss auf Justiz und öffentliche Wahrnehmung nimmt. Als Multiplikatoren haben sich hier große Teile der Medien verdient gemacht, indem vielfach Polizeimeldungen unrecherchiert übernommen wurden und schließlich bei weiten Teilen einer immer rasanter nach rechts rückenden Gesellschaft der Wunsch nach einem harten, autoritären Staat aus der Anonymität der Kommentarspalten in die reale Welt zutage trat.
Abseits von den oft sehr emotionalisierten Einschätzungen zu G20 hätte das Ereignis mit seiner komplexen Dialektik im Nachgang eine tiefgreifende Aufarbeitung gebraucht. Dazu gehört auch die Frage, was genau eigentlich Gewalt ist. Wer waren die vielen verschiedenen Gewalt-Akteure, was sind Formen von Gewalt und in welchem Kontext standen sie, respektive wie nahmen sie Einfluss auf den Gipfel? Nach wie vor aber beschränkt sich der Hauptfokus der Erinnerung auf eine überwiegende Kriminalisierung der Proteste durch eine Gleichsetzung mit den Ausschreitungen, während die Polizei ihrerseits zusammen mit der verantwortlichen Politik massiv Bürgerrechte sowie die Pressefreiheit im wahrsten Sinne mit Füßen getreten hat. Der zahnlose Sonderausschuss in Hamburg vermag hier weder das öffentliche Interesse an der Aufarbeitung der Geschehnisse in angemessenem Maße zu entfachen, noch gelingt es, die zurückliegende Diskursverschiebung nachträglich auf ein ausgeglichenes Niveau zu korrigieren. Diese Schieflage bekräftigt auch das weiterhin harte Vorgehen gegen angeklagte Protestteilnehmer wie auch Tatverdächtige im Gegensatz zu bisher keiner einzigen Anklage gewalttätiger Polizisten.
Egal wie man zu den Abläufen um den Hamburger Gipfel steht: Staat und Polizei haben nicht nur den Streit um die Deutungshoheit schon während des Gipfels für sich entschieden, sondern auch darüber hinaus behaupten können. Es ist den Sicherheitsbehörden trotz nachweislicher Rechtsbrüche gelungen, sich selbst derart fest ins „richtige“ Licht zu rücken, dass selbst ein Jahr später und trotz massiver Kritik aus Oppositionskreisen der Nimbus „guter Polizeiarbeit“ bei weiten Teilen der Bevölkerung erhalten bleibt. Konkret liegt dies an der offensiven Arbeit eines hochprofessionalisierten eigenen Medienapparates und paralleler Lobbyarbeit über Institutionen wie beispielsweise die Gewerkschaft der Polizei (GdP), welche gern für „unabhängige“ Einschätzungen befragt wird. So wird mittels modernem Bespielen diverser Social-Media-Kanäle direkt auf die politische Willensbildung der Gesellschaft Einfluss genommen und hier vielfach willkommen rezipiert.
Dabei werden, wie sich auch in anderen Fällen zeigte, zielgruppengerecht verbreitete Einschätzungen gern stark entstellt gestreut. Wenn es die Situation erfordert, werden dabei auch mal Lagen erfunden, wie im Falle der Rigaer Straße in Berlin, wo sich ein vermeintlicher Angriff mit einem schweren Gegenstand, letztlich als weit von den Einsatzkräften fliegender Müllsack entpuppte oder die Mär vom unter Strom gesetzten Türknauf im gleichen Kontext, die letztlich vom erwiesenermaßen fehlenden rechtlichen Fundament der Einsätze ablenken sollten. Dank der breiten Unterstützung durch Mainstream-Medien, die in vielen Fällen Polizeimeldungen völlig unhinterfragt übernehmen, verbreitet sich ein geschöntes Bild der Polizei und wird so zur Wahrheit. Prominente Beispiele in der Zeit nach G20 sind die Situation in Ellwangen, wo Geflüchtete sich gegen eine Abschiebung mit einer angeblichen „neuen Qualität der Gewalt“ behaupteten oder der vermeintliche „Sturm vermummter Chaoten“ auf die Familie eines Staatsschutzbeamten im Wendland. Der Aufschrei in Politik und Gesellschaft folgt prompt, laut und aufgeregt. So kommt es dann, dass der Oberexperte für innere Sicherheit, der Innenminister, nicht nur seine Sprache radikalisiert und keine Unterscheidung mehr zwischen links und linksextremistisch macht – gleich so, als würde man einen Elektriker ums Setzen einer Steckdose bitten und dieser permanent den sicheren Tod durch Kabelbrand prophezeien.
Ganz bewusst wird eine kontinuierliche Verschiebung der Diskursebene provoziert. Spätere Richtigstellungen leiden im Vergleich zum Erst-Skandal überwiegend unter einem deutlich geringeren Nachrichtenwert und interessieren im Allgemeinen wesentlich weniger Menschen. Auf diese Weise kann die Polizei sich auch bei den derzeit laufenden Untersuchungsausschüssen in Hamburg mit ihrem Lieblingsstück, dem Eigenlobgesang, über jede Kritik hinweginszenieren. Rechtsbrüche erweitern anschließend den einsatztaktischen Standard genauso wie zunehmende militärische Aufrüstung und Taktiken, die letztlich mit neuen, radikalen Polizeiaufgabengesetzen der Länder ihren rechtlichen Rahmen bekommen.
Es liegt im Kern der Sache, dass Polizei als Teil des demokratischen Institutionengeflechts selbst auch demokratisch organisiert und verankert sein sollte. Nicht zuletzt die UNO kommt zur Einschätzung, dass in dieser Hinsicht durch Praktiken wie Racial Profiling und das völlige Fehlen unabhängiger Beschwerdemöglichkeiten und Kontrollinstanzen in Deutschland ein Defizit besteht. Hier liegt dringender Reformbedarf vor, doch scheint man diesbezüglich auf Seiten von Gesetzgebung und Öffentlichkeit keine oder kaum Handlungserfordernisse zu sehen
Das Konzept einer starken Medien- und Lobbyarbeit durch die Sicherheitsbehörden, dass Sicherheit Freiheit sei und bleibe, geht auf. Und der Polizei gelingt es, mit den eigenen Lageeinschätzungen Repressionen auch gegen geltendes Recht zu legitimieren und so eine eigene politische Agenda durchzusetzen. Dank aufmerksamkeitsstarker Medienarbeit wird eine breite, außerparlamentarische Zustimmung gesichert und die Schwächung demokratischer Prinzipien noch als Zeichen von Stärke inszeniert. So genießt die Polizei letztlich unter allen Institutionen weiterhin das meiste Vertrauen und steht damit nicht nur fest auf dem Sockel der eigenen Deutungshoheit, sondern ist zu einem politischen Player geworden, der in dieser Form das demokratische System von „Checks and Balances“ (Überprüfung und Ausgleich) ins Ungleichgewicht bringt.
Schlagwörter: Demokratie, G20, Polizei, Rechtsstaat, Stephan Jakubowski