von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Shakespeares Leiche, Berliner Ansichten sowie altrussische Bürgerelendsspiele …
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Mit roten Ohren rufen sie: „Wir wollen was machen, was die Leute noch nie gesehen haben!“ – Da haben die taffen beiden Engländer Mister Bush Moukarzel und Mister Ben Kid schon mal den richtigen Ansatz: Sie wollen populär sein, wollen Publikum haben. Deshalb Shakespeare, immer eine sichere Bank. Und gleich zu Beginn ein staunendes Ah und Oh in der Berliner Schaubühne: Sie präsentiert sich, getaucht in kühles trübes Licht, als herrlich leere Scheibe – die Bild gewonnene Verheißung. Dann – Überraschung! – klappt die Scheibe auf wie der Deckel einer Puderdose. Zum Vorschein kommt Sandstrand mit Steinen und Wasserloch. Und oben, im Innern vom Aufgeklappten, ein Screen: Der Einsatz von Mapping-Technologie für die digitale Anzeige dessen, was unten analog mit den Schauspielern sowie, um es gleich zu sagen, bloß ein bisschen Shakespeare passiert.
Dorthin, nämlich in den Sand vom öden Strand, hat es das Personal von Williams letztem Stück „Der Sturm“ gespült. Als Schiffbrüchige nach einem Orkan. Den hatte der königliche Inselherrscher und Zaubermeister Prospero entfacht aus Rache für einst erlittene Demütigungen durch seinen politischen Gegner, der zugleich sein Bruder ist (ein übles Machtspiel als Vorspiel der Geschichte). Doch Prospero nebst einigen anderen Figuren haben unsere beiden flotten Jungregisseure gleich mal flink gestrichen aus dem Personenverzeichnis ihrer extrem freien, als „Shakespeare’s Last Play“ firmierenden Paraphrase auf „The Tempest“.
„Der Sturm“ ist ein böses und zugleich zutiefst humanes, höchst seltsames, schier unerforschliches poetisches Märchenspiel um Enttäuschung, Rache, Gnade, Verzicht, Alter, Jugend, Macht, Ohnmacht, Unterwerfung, Befreiung, Verirrung und Einsicht, Liebesnot und – Liebesglück. O, dieser alte William, schwebend in schier überkomplexer Weltweisheit! Und schwelgend in einer blumigen Liebeserklärung an das unverwüstliche Theater.
Die talentvollen Burschen aus Dublin und London lieben ihn ganz offensichtlich. Indem sie am Ende ihrer Kurzfassung der komisch-grotesken Mär – Einzelheiten der wehen Fantasy-Wirren werden kess beiseite gewischt – , die vom Winde aufs öde Eiland Illyrien Verwehten und vor Hunger Verzweifelten heftig im Sand buddeln lassen. Hervor kommt Shakespeares Leichnam, den sie in ihrer existenziellen Not schließlich – um zu überleben – verfuttern. Oder, anders gesagt, sich einverleiben als rettende Speise. Was für ein Finale! Was für ein Sinnbild Shakespearscher Art! Und dieser irre Einfall ist wohl auch der ganze Grund für das ganze stürmisch-witzige Shakespeare-Kabarett.
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„Berlin, du kannst so hässlich sein“, grummelte vor einem Jahrzehnt der Berliner Hip-Hopper, unser poppig-surrealer „Stadtaffe“ Peter Fox. Der Philosoph, Architekt und Berlin-Enthusiast August Endell schrieb hundert Jahre zuvor in seinem Büchlein „Die Schönheit der großen Stadt“ (Verlag Strecker & Schröder, Stuttgart 1908): „Wer sehen will, sieht Wunder und Schönheit.“
Fox mag Endell nicht gekannt haben, doch irgendwie hat sein bissiger Song auch mit Heimatliebe zu tun – wie bei vielen von uns heutzutage. Wir hassen Berlin (für seinen Dreck, seine misslichen Regierungen, seine breite Fresse, seinen BER). Und wir lieben es (für seine Wurschtigkeit, seine Kultur-Kostbarkeiten, seinen Sound and Underground, seine Kieze).
Tja, dieses unergründliche Berlin: Sündenbabel, Metropole, Kaiserstadt, Reichshauptstadt, Theaterhauptstadt, Museumshauptstadt, Nazi-Hauptstadt, Mauerstadt, Bundeshauptstadt, Spree-Athen und Zille-Hinterhof (neuerdings top saniert). Vollgestopft mit Größenwahn und Kleinkariertem, Herrlichkeiten und Spießigkeiten, Idyll und Weltbewegendem. Das Schöne und das Hässliche, det is Balin …!
Das Berliner Stadtmuseum zeigt bis zum 26. August in seiner Dependance Ephraim-Palais fein sortierte Berlin-Bilder von Gaertner (dem berühmten klassizistischen Vedutenmaler) bis Rainer Fetting (dem berühmten Modernisten von heute). Unter dem begeisterten Motto nach August Endell: „Die Schönheit der großen Stadt“.
Eine Veranstaltung zum Staunen über die Kontraste seit jeher. Eine Entdeckungsreise durch die Bilderfülle; gezählt: 117 wuchtige wie intime Werke aus unterschiedlichen Epochen – vom 19. Jahrhundert bis heute; in drei Stockwerken bei Ephraims am Spreeufer im Nikolaiviertel. Man wird zum Flaneur durch die jüngere und jüngste Geschichte der Stadt, auf die immerhin noch immer so ziemlich alle Welt schaut.
Es geht dabei nicht chronologisch zu. Vielmehr gliedert sich die großartige Sonderschau in Themenräume: „Großstadtnacht“ (etwa mit Lesser Urys Nollendorfplatz), „Großstadtimpressionen“ (Paul Hoenigers Spittelmarkt), „Spree-Athen (natürlich die Panoramen Eduard Gaertners), „Die Zerrissene Stadt“ (Fetting, Vostell) oder „Blick von oben“ mit Harald Metzkes Fernsehturm-Blick gen Westen (1981) und Oskar Kokoschkas Blick vom Springer-Hochhaus über den Todesstreifen in Richtung Osten (1966). Alles sehr persönliche, teils beunruhigende, teils aufregend herrliche, prunk- oder gemütvolle Künstler-Blicke aufs irritierende Berlin – seine Prachtfassaden wie Elendswinkel. Ambivalenzen immerzu. Was für Erlebnisse! Wer da glaubt, die Stadt zu kennen, der irrt.
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Triumphierendes klassisch-komödiantisches Allstar-Ensembletheater in einem spannenden Stück aus dem 19. Jahrhundert über die seelische Vernichtung von Menschen, das Regisseur Alvis Hermanis strikt im historischen Milieu des auftrumpfenden russischen Kapitalismus um 1880 belässt – und gerade dadurch lebendig ins Überzeitliche, also Heutige zielt: „“ von Alexander Ostrowski im vom Regisseur entworfenen, hinreißend ausstaffierten Ambiente bieder gemütlicher Bürgerlichkeit, in dem es hinter feinen Tapeten äußerst unfein, äußerst unbürgerlich zugeht auf der Riesenbreitwandbühne Burgtheater Wien.
Auf den Punkt gebracht geht es um eine blutjunge Schönheit und einen biederen Freier – wahrlich zwei fürchterliche, fürchterlich komischer Schmerzensfiguren –, die sich durch Eitelkeit, Dämlichkeit, Selbstbetrug und Wahn ins Unglück stürzen, an dem freilich vor allem die zynischen Intrigen und bösartigen Lügen ihres moralisch verkommenen Umfeldes geharnischten Anteil haben. Wir staunen über sensibel gesteuertes Einfühlungstheater, über diesen ätzenden Realismus der so genannten (und gern voreilig und unwissend geschmähten) alten Schule. Wir staunen über Girlanden schauspielerische Kabinettstücke voller Lebensgier, Herzweh, Anmaßung, Groteske, Verzweiflung und Kaltblütigkeit. Was für ein trauriges, elend schönes Sehnsuchtsspiel.
Schlagwörter: Alexander Ostrowski, Berlin, Burgtheater, Der Sturm, Ephraim-Palais, Querbeet, Reinhard Wengierek, Schaubühne, Shakespeare