von Erhard Crome
Am 1. Juni wurde in Italien die „populistische“ Regierung von Premier Giuseppe Conte vereidigt. Die als „linkspopulistisch“ geltende Fünf-Sterne-Bewegung und die rechte Lega (früher Lega Nord) verfügen über die parlamentarische Mehrheit: im Abgeordnetenhaus über 357 von 630 Sitzen, im Senat über 167 von 318 Sitzen. Staatspräsident Sergio Mattarella hatte diese Regierung im ersten Anlauf verhindern wollen, weil der designierte Wirtschafts- und Finanzminister, Paolo Savona, ein bekennender Euro-Gegner ist. Savona hatte bei verschiedenen italienischen Banken gearbeitet, war Minister und Hochschullehrer. Er hatte bereits den Maastricht-Vertrag der EU (1992) abgelehnt, weil nach seiner Analyse dessen Umsetzung der italienischen Wirtschaft schadet.
Deshalb sollte Carlo Cottarelli, der 25 Jahre für den Internationalen Währungsfonds gearbeitet hatte, eine „Expertenregierung“ bilden und die Marktkompatibilität der italienischen Demokratie sicherstellen. Er hätte jedoch die Bestätigung einer Parlamentsmehrheit benötigt, die fast alle Parteien ablehnten. Die Vertrauensabstimmung wäre desaströs ausgegangen und hätte nicht nur Cottarelli, sondern auch den Staatspräsidenten politisch beschädigt. Neuwahlen wären unausweichlich gewesen. Matteo Salvini, der Chef der Lega, war bereits wieder im Wahlkampfmodus. Allen Umfragen nach wäre die Mehrheit für Fünf Sterne und Lega noch deutlicher ausgefallen. Fünf-Sterne-Spitzenmann Luigi Di Maio sagte Mattarella eine Neuauflage der Regierung mit einem anderen Wirtschafts- und Finanzminister zu, die Lega kam wieder ins Boot, Conte soll Ministerpräsident werden und Savona das Europaministerium führen. Damit bekommt Italien nun eine neue „politische“ Regierung ohne Neuwahlen.
Die letzte „Expertenregierung“ war die von Mario Monti 2011 bis 2013. Der vormalige EU-Kommissar wurde Ministerpräsident, nachdem Silvio Berlusconi zum Rücktritt gedrängt worden war, weil der die geforderten Ausgabenkürzungen nicht exekutieren wollte. In jener Zeit war die Industrieproduktion seit 19 Monaten in Folge rückläufig. Die Arbeitslosigkeit lag im Januar 2013 bei fast zwölf Prozent (derzeit knapp elf Prozent), die Jugendarbeitslosigkeit bei 39 Prozent (2018 über 33 Prozent).
Es lohnt ein Rückblick auf die vorigen Parlamentswahlen im Februar 2013. Beide Kammern – Abgeordnetenkammer und Senat – sind gleichberechtigt, eine Regierung braucht die Mehrheit in beiden. Die Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo erreichte etwa 25 Prozent der Wählerstimmen und wurde auf Anhieb drittstärkste Kraft. Grillo ist Komiker, politischer Kabarettist und Schauspieler und galt als erfolgreichster Blogger Italiens. Die ihn tragenden Netzwerke waren jedoch nicht plötzlich aufgetaucht, sondern wurden vor Ort seit Mitte der 2000er Jahre aufgebaut – parallel zum Zerfallsprozess der politischen Linken. Erste Wahlerfolge auf kommunaler Ebene erreichte Fünf-Sterne-Bewegung 2012. Das Ergebnis der Parlamentswahlen 2013 machte sie auf Landesebene zu einer zentralen Kraft; 2018 wurde sie mit 32,7 Prozent der Wählerstimmen und 227 Sitzen im Abgeordnetenhaus stärkste Partei.
Das alte Parteiensystem Italiens mit seiner christdemokratischen Rechten sowie einer kommunistischen Linken – dazwischen Sozialisten, Liberale und andere – war in der ersten Hälfte der 1990er Jahre untergegangen. Der Unternehmer Berlusconi – der „reichste Mann Italiens“ mit einem damals auf 7,8 Milliarden US-Dollar geschätzten Vermögen – hatte die politische Bühne betreten und die Rechte auf einer rechtspopulistischen Grundlage neu formiert, unter Nutzung seiner Medienmacht jahrelang das Land regiert und der italienischen politischen Landschaft seinen Stempel aufgedrückt. Seine Politik rief immer wieder, oft auch massenhafte Proteste hervor; sie mündeten angesichts des politischen, programmatischen und organisatorischen Zerfalls der italienischen Linken jedoch nicht auf herkömmliche Weise in neue demokratische Mehrheiten. So entstand die Gelegenheitsstruktur für einen politischen Akteur wie Beppe Grillo. Und die Fünf-Sterne-Bewegung wird oft als „links“ eingeordnet, obwohl ihre Programmatik und Politik das von Anfang an nicht hergaben.
Damals kommentierte die Süddeutsche Zeitung (26.02.2013), Monti habe „Italien vor dem anstehenden Staatsbankrott“ gerettet, ohne sein „Seriositäts-Versprechen gäbe es heute das Euro-Land Italien nicht mehr.“ Man vergaß hinzuzufügen: Ohne das Euro-Land Italien gäbe es die ganze Euro-Zone nicht mehr, auch den Euro nicht; die D-Mark-Preise wären um über 40 Prozent höher als die derzeitigen Euro-Preise, die deutschen Exporte würden in den Keller rutschen und die Regierer in diesem Lande hätten es mit sieben Millionen Arbeitslosen in Deutschland spätestens am nächsten Jahresende zu tun.
Die liberal-konservative italienische Tageszeitung Corriere della Sera (27.02.2013) stellte damals fest, das war eine „Anti-Sparkurs- und Anti-Europa-Wahl“. Das gilt auch heute, und das Medien-Echo ist analog. Der britische Economist (19.05.2018) meint: „Leider bieten weder die Lega noch die Fünf-Sterne-Bewegung Lösungen für die wahren Probleme Italiens. Die Produktivität hat dort seit dem Jahr 2001 kaum zugenommen, während sie in Deutschland um 16 und in Rumänien um 134 Prozent gestiegen ist. Um das in Ordnung zu bringen, müssten das Arbeitsrecht flexibilisiert, die Gerichte reformiert, in Bildung und Infrastruktur investiert und die Korruption bekämpft werden.“ Von außen wird das volle neoliberale Programm verlangt. Das haben die italienischen Wähler aber gerade abgelehnt.
Die finnische Zeitung Ilta-Sanomatm betonte unter der Überschrift: „Kopfschmerzen in Berlin und Brüssel“ (18.05.2018): „Der Euroelite würde eine relativ radikale und offen eurokritische Regierung im drittgrößten Euroland die nächsten heftigen Kopfschmerzen bereiten. Die ausgesprochen teuren und den EU-Abkommen widersprechenden Wirtschaftsprogramme dürften außer Brüssel ganz sicher auch Berlin verärgern, auch wenn die vor Kurzem noch für den Euroaustritt plädierenden Parteien nun versprochen haben, die Gemeinschaftswährung ’nicht infrage zu stellen‘. Es ist schwer vorstellbar, dass Deutschland angesichts dieser Regierung auch nur einer einzigen Reform zustimmen würde, die als Ausweitung der Gemeinschaftsverantwortung ausgelegt werden könnte.“
Hier wird deutlich: das jetzt offen ausbrechende Zerwürfnis folgt nicht zuerst aus anti-deutschen Gefühlen irgendwelcher italienischer Politiker, sondern aus der realen Lage in der Europäischen Union. In Deutschland fordern 154 Wirtschaftsprofessoren in einem offenen Brief (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.05.2018), die europäische Währungs- und Bankenunion nicht weiter zu einer Haftungsunion auszubauen, obwohl oder weil im Koalitionsvertrag zur derzeitigen Bundesregierung die Vorschläge des französischen Präsidenten Macron und des EU-Kommissionschefs Juncker positiv genannt sind. Das würde „hohe Risiken für die europäischen Bürger“ bergen – gemeint sind Risiken für das deutsche Exportmodell. Die deutschen Professoren verteidigen die hegemoniale Stellung Deutschlands in der EU.
Der italienische Wirtschaftsprofessor Savona dagegen verteidigt Interessen Italiens gegen deutsche Hegemonie. Er hatte bereits 2015 einen im Internet nachzulesenden Plan entwickelt, wie über Nacht in Italien eine „Neue Lira“ eingeführt wird, auch als Bargeld. Der Wechselkurs sollte zunächst eins zu eins zum Euro betragen, alle Guthaben und Schulden, auch die italienischen Staatsschulden werden zu diesem Kurs umgewandelt und zugleich strenge Kapitalverkehrskontrollen eingeführt. Anschließend lässt die italienische Zentralbank – bei der nun die Währungshoheit liegt, nicht mehr bei der Europäischen Zentralbank – den Wechselkurs in Richtung Abwertung laufen, wodurch die Konkurrenzfähigkeit der italienischen Wirtschaft wieder steigt.
Fünf-Sterne-Bewegung und Lega betonen, dieses Programm stehe weder auf der Tagesordnung noch im Koalitionsvertrag. Es schwebt aber als Drohung im Raum, bei allen weiteren Verhandlungen über die Stellung Italiens in der Europäischen Union. Die italienischen Nationalisten haben aus der Art und Weise gelernt, wie Wolfgang Schäuble und Deutschland die griechische Regierung faktisch entmündigt und dort die Demokratie beiseite geschoben haben. Das wird sich in Italien nicht wiederholen lassen.
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