21. Jahrgang | Nummer 13 | 18. Juni 2018

Italien. Lehrstück für Europa?

von Heerke Hummel

Jüngst brachte Der Spiegel einen interessanten, in seinen Details von einem zwölfköpfigen Autorenteam fleißig recherchierten Bericht zur Lage auf der Apennin-Halbinsel. Das Ergebnis der Analyse findet sich schon in der Unterzeile auf der Titelseite: „Italien zerstört sich selbst“ – und bringe damit die ganze Europäische Union in Gefahr.
Was sich im Geburtsland von Dante, Manzoni und Umberto Eco abspielt, scheint eher ein schäbiges Schmierenstück des Polittheaters auf Kosten des Volkes zu sein. Immerhin hat, wie wir erfahren, einer der beiden den Euro-Austritt bislang anstrebenden Koalitionspartner, die rechtsnationalistische Lega, die Austrittsparolen an den Fassaden ihrer mailändischen Parteizentrale bereits weiß übertünchen lassen. Nachdem die Wähler sie, die Lega, in die Regierung gebracht haben. Mag die aus einer wütenden Volksbewegung hervorgegangene Fünfsternebewegung ihr Streben aus dem Euro auch ernst meinen – ohne Lega besteht in dieser Frage kaum noch Gefahr für Europa. Italiens Großbürgertum wird es zu verhindern wissen, um die Bedingungen seines Wohlstands nicht zu vernichten.
Denn dieser großbürgerliche Wohlstand scheint in Italien noch bedeutend größer zu sein als im doch so reichen Deutschland. Denn während im Durchschnitt ganz Italiens jeder Privathaushalt (im Jahre 2014) über ein Nettovermögen von 226.000 Euro verfügt, sind es in Deutschland 214.000 Euro. Und dies bei einer Staatsverschuldung je Haushalt von 87.727 Euro in Italien beziehungsweise 51.623 Euro in Deutschland. Man stelle sich vor, in welchem Maße sich das Privatvermögen in Italien noch mehr als in Deutschland bei den Reichen konzentrieren muss angesichts der noch viel stärker ausgeprägten inneren sozialen Ungleichheit und der ganz besonderen Armut im Süden Italiens!
Und dieser größere bürgerliche Wohlstand vor allem in Norditalien resultierte, wie die riesige Staatsverschuldung belegt, nicht aus größerer Wirtschaftsleistung, sondern aus den Zahlungen des Auslands. Als italienische Staatsanleihen praktisch nicht mehr auf den Markt zu bringen waren, wegen der unannehmbaren Zinsforderungen der Märkte, da spendierte die EZB das nötige Geld, um den italienischen Staat nicht zusammenbrechen zu lassen – beziehungsweise damit die Reichen nicht endlich zur Kasse gebeten werden mussten. Präsident der EZB ist (zufällig?) ein Italiener: Mario Draghi.
Kein Wunder also, dass die Italiener, wie Der Spiegel feststellt, „den Glauben an ihre Politiker endgültig verloren haben“. „Die Wut der Völker Europas werde wachsen“ wird eine Äußerung der Französin Marine Le Pen vom Front National wiedergegeben. Und die Feindbilder Brüssel und Berlin sowie die Überzeugung, die von den Deutschen dominierte Gemeinschaftswährung Euro sei die Wurzel aller Übel, bildeten den Kitt der europäischen Populisten. Deren „Rattenfängerparolen“ (Wie, der Wähler als Ratte?) stießen auf wenig fundierten Widerstand.
Ja woher soll denn fundierter Widerstand auch kommen, wenn wohl niemand – von der Wirtschaftswissenschaft über den ganzen Finanzbereich bis hin zur Politik – verstanden hat, was sich da in den letzten hundert Jahren ganz allmählich vollzog? Nämlich eine Revolution in den ökonomischen Verhältnissen und Beziehungen der Gesellschaft, eine grundlegende Veränderung in deren Wesen. Sie drückt sich aus besonders als Veränderung im Wesen des Geldes und des Finanzsystems. Mit diesem „innerlich“ neuen Geld vermögen die Märkte das ökonomische Geschehen nicht mehr zu regulieren. Die Zeiten des britischen Ökonomen Sir Adam Smith mit seiner „unsichtbaren Hand des Marktes“ sind endgültig vorbei.
Man kann auch sagen: Wir stehen am Ende der kapitalistischen Warenproduktion, am Beginn einer neuen Ära. Kapitalverwertung und Profitmaximierung sind zu Zielgrößen ökonomischen Denkens und Handelns geworden, die ins soziale Elend, ins ökonomische Chaos und zur Zerstörung unseres Planeten führen. Statt Wettbewerbs zum individuellen Nutzen auf Gedeih und Verderb bedarf es der Organisation des gesellschaftlichen ökonomischen Tuns zum Nutzen aller Menschen (Chinas Präsident Xi Jingping hat dazu vor weniger als einem Jahr Vorschläge für eine weltweite Kooperation unterbreitet.) Die große Herausforderung für Theorie und Praxis besteht nun darin, zwei gegensätzliche Prinzipien in harmonische Übereinstimmung zu bringen: zentrale Zielsetzungen, Orientierungen und Abmachungen sowie Kontrolle einerseits, Eigenverantwortung und Freiheit des Individuums andererseits.
Seitdem Karl Marx seine Analyse der kapitalistischen Produktionsweise vorlegte, war die Wirtschaftswissenschaft in zwei grundsätzliche, mit der politischen Umsetzung seiner Konsequenzen schließlich verfeindete Lager gespalten. Sie bekämpften sich und erstarrten theoretisch in Dogmen; aus Furcht und Berührungsängsten voreinander. So verloren beide die Realität aus den Augen, den Wandel, der sich ökonomisch hüben wie drüben vollzog und ein Aufeinanderzugehen und gegenseitiges Verstehen hätte bewirken sollen.
Daher wäre bei der nun allerorts herbeigeredeten Reform der Europäischen Union und ihrer Verfassung zuallererst anzuerkennen und festzuschreiben, dass Reichtum nur aus Arbeit entsteht und sich ohne (eigene) Leistung nicht vermehren kann, die heutigen Zielgrößen allen Wirtschaftens also desaströs wirken. Ferner, dass das Geld zu einer gesellschaftlichen Bescheinigung über geleistete Arbeit geworden ist, mit der Anspruch auf entsprechende Produkte erhoben werden kann. Sodann, dass der Umgang mit Geld gesellschaftlichen Vorschriften beziehungsweise Regeln unterliegen muss und nicht einfach Privatsache seines Besitzers ist.
Auf solche Fragen muss die europäische Linke vorbereitet sein, wenn es an die allgemeine Erörterung einer Reform der Europäischen Verfassung geht. Letztere muss demokratisch gestaltet werden in dem Sinne, dass sie dem Wohl aller Europäer verpflichtet ist und ihm auch wirklich dient. Dazu muss sie, ausgehend von politischen Orientierungen, gesellschaftlichen Zielsetzungen und sachlichen Strukturplanungen für ganz Europa, den Umgang mit dem Euro regeln, seine Verteilung und Umverteilung als Voraussetzung für die notwendigen Warenströme in der EU. Dies dürfte zu den heißesten Themen einer Reformdebatte gehören. Denn es setzt ein völliges Umdenken in der Wirtschaftswissenschaft, in der Wirtschaft selbst, im Finanzsektor und in der Politik voraus – getragen von der Erkenntnis und dem Eingeständnis, dass Wirtschaft und das Wirtschaften nicht mehr Privatsache einzelner Menschen oder Gruppen sind und das Geld nicht mehr das ist, was es vor hundert oder vielleicht noch fünfzig Jahren war. Bei seinem Einsatz geht es – soll es seinen vernünftigen solidarischen, ökonomischen und umweltgerechten Zweck erfüllen – nicht mehr um die Realisierung von Profit als Quelle zur Vermehrung von privatem Reichtum. Es ist Ausdruck von Reichtum der Gesellschaft ganz allgemein geworden, von geleisteter gesellschaftlicher Arbeit und von Verfügungsgewalt darüber. Dies alles unter der Voraussetzung, dass es so juristisch auch anerkannt, fixiert wird, zuallererst durch eine neue Verfassung für die Europäische Union.
Die jetzt bevorstehenden Bemühungen zur Rettung beziehungsweise Ordnung der Verhältnisse in Italien mit europäischer Unterstützung werden zeigen, inwieweit in den praktischen Aktionen der Brüsseler Behörden und Institutionen wenigstens Ansätze wirklich weiterführenden Denkens zu erkennen sind. Das tatsächliche politökonomische Verstehen dessen, was da in den Beziehungen – einerseits innerhalb der EU/Euro-Zone, andererseits zwischen ihr und der übrigen Welt – vor sich geht, wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen und auf sich warten lassen.