21. Jahrgang | Nummer 12 | 4. Juni 2018

„Weise“ deutsche Außenpolitik

von Stephan Wohanka

Deutschland hätte in diesen weltpolitisch bewegten Zeiten, so ist im Blättchen zu lesen, eine „weise Außenpolitik“ vonnöten. Ja – was wäre denn eine solche?
In diesem außenpolitische Weisheit anmahnenden Text ist das wirklich Bemerkenswerte jedoch – Außenpolitik! –, dass der Begriff „Europa“ nicht vorkommt. Und das ist symptomatisch. Von Links über wohlmeinende politische Analysten aller Couleur bis Rechts reicht die Front derer, die Außenpolitik genügsam nur aus dem deutschen Vorgarten heraus betreiben wollen.
Neben den Streitereien in der Partei DIE LINKE macht Links als politische Strömung durch das Projekt #fairLand – eine von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht angeregte linke Sammlungsbewegung – von sich reden. Obwohl Name und Inhalt noch nicht endgültig fixiert sind: In einem entsprechenden Textes pocht man auf die „Wahrung kultureller Eigenständigkeit“ und „Respekt vor Traditionen und Identität“, was nicht gerade nach einem Plädoyer für Europa klingt.
Auf der anderen, der konservativ-liberalen Seite, zur der ich in diesem Falle die C-Parteien der Regierungskoalition und namentlich die CSU rechne, dröhnt in Sachen Europa der Ruf: „Die wollen nur unser Geld!“ Im bayerischen Wahlkampftümpel blubbert es gewaltig, nicht nur diese Södersche Sumpfblüte verströmt einen üblen Gestank. Je nach Gusto werden die Gierigen auf den deutschen Zaster dann weiterhin im „Griechen“ vulgo Süd- und Ausländer gesehen, wobei man wissen sollte, dass die finanziellen Hilfen für Griechenland dem Bundeshaushalt bis Mitte 2017 etwa 1,34 Milliarden Euro einbrachten. Oder auch im französischen Präsidenten Macron. Und beim Gelde hört bekanntlich nicht nur die (europäische) Freundschaft auf.
Rechtsaußen ist die AfD zum parlamentarischen Arm eines Sammelsuriums geworden, das sich in einem gemeinsamen Ziel wiederfindet, in einer anderen Republik: „Deutschland sollte der Staat der Deutschen sein“ mit weniger Ausländern und weniger Muslimen. Es ginge darum, einen „geistigen Bürgerkrieg“ um die „Existenz der Nation“ (Götz Kubitschek) zu entfesseln – wohl auch keine „Politik“, die über den deutschen Zipfelmützenhorizont ausgreift…
Angesichts der geopolitischen Lage – Klimawandel, Globalisierung und Digitalisierung, weltweite Flüchtlingsströme, drohender Handelskrieg mit den USA, Aufkündigung des Iranischen Atomabkommens einschließlich ökonomischer Erpressung durch die USA, vermehrte und verschärfte, auch militärische, Spannungen im Nahen Osten, um nur die heißesten Brandherde und größten Herausforderungen zu nennen – muss „weise“ deutsche Außenpolitik in erster Linie Europapolitik sein! Die aufgeführten Probleme, mehr noch – eigentlich alle, mit denen Deutschland konfrontiert ist, lassen sich nur in Kooperation mit anderen Staaten respektive im Rahmen einer europäischen Gesamtpolitik angehen; entweder sind Lösungsansätze nur nachbarlich-grenzüberschreitend möglich und/oder allein ist die Bundesrepublik trotz ihrer (noch) ökonomischen Stärke politisch überfordert. Sie ist nur auf sich gestellt zu schwach. Nur als politisch geeintes Europa haben wir eine Stimme in der Welt und können mitbestimmen, mitgestalten. Wenn man hierzulande weiterhin meint, man könne sich im „Windschatten der Weltgeschichte“ (Joschka Fischer) durchmogeln, macht man das Land über kurz oder lang handlungsunfähig, degradiert es zum Spielball äußerer Mächte.
Im Bundestagswahlkampf von Union und SPD spielte die Europapolitik kaum eine Rolle, was mir angesichts der Kanzler-Kandidatur des Europapolitikers Martin Schulz (der sich zum Bürgermeister von Würselen verzwergen ließ) und des fulminanten Erfolgs von Macron mit dem Europathema immer ein Rätsel blieb. Deshalb mutet es schon seltsam an, dass nun gerade die Europapolitik als Begründung für die Wiederauflage der Großen Koalition herhalten musste. Die dann endlich gebildete deutsche Regierung fand nicht nur europapolitische Vorschläge des französischen Präsidenten vor, sondern auch diverse Ideen der EU-Kommission. Aber – siehe oben – gerade der konservative Teil der Regierung mauert und treibt mit seiner restriktiven Finanzpolitik das Land zunehmend in eine Selbstisolation. Es stehen Entscheidungen an, die sehr weitreichend sind: Braucht der Euroraum einen Finanzminister oder gar einen eigenen Haushalt? Wie wehrt man die Trumpschen Erpressungen ab? Wie bekommt die EU eine gemeinsame Flüchtlingspolitik hin? Aber auch: Soll die EU die vertiefte Zusammenarbeit, die sie jetzt in der Verteidigungspolitik in Angriff nimmt, in Richtung einer europäischen Armee treiben? Denn es ist klar, ohne oder gar gegen Deutschland geht in der EU nichts; zusammen mit Frankreich müsste Deutschland vorangehen.
Bislang konnten sich der französische Staatspräsident und die Bundeskanzlerin nur darauf einigen, bis Mitte des Jahres, sprich bis zum nächsten EU-Gipfel Ende Juni, konkretere Reformen zu präsentieren. Wenig, zu wenig angesichts der Tatsache, dass die Zeitspanne für den Aufbruch, die namentlich Macron mit seinen Vorschlägen geöffnet hat, kurz ist. Bereits im Mai nächsten Jahres stehen Europawahlen an. Wenn die EU-feindlichen Populisten rechter und linker Couleur, die vehement nationale Abschottung, Protektionismus und geschlossene Grenzen als Allheilmittel gegen die Globalisierung und andere Fährnisse fordern, nicht weiter an Boden gewinnen sollen, müssen bis dahin Entscheidungen getroffen sein.
Immerhin regt sich in der SPD einiger Widerstand gegen die europapolitische Hinhaltetaktik der Union. Die SPD-Grundwertekommission unterstützt Macron in ihrem 15-seitigen Papier „in einer ganzen Reihe von Punkten“ – etwa im Bereich der Flüchtlings- und Asylpolitik, die überall in eine Kommunenförderung umgewandelt werden solle. Anders als Macron strebe die SPD aber nicht ein so großes Eurobudget an. Darüber hinaus wolle die SPD noch „erheblich mehr im sozialen Bereich machen“. Es gelte, die Zerrissenheit Europas zu überwinden; Europa sei „die Bedingung unserer Zukunft“ – wenigstens gewisse Vorstellungen zu einer vertieften europäischen Einigung.
All das wird Geld kosten und hat – nota bene – immer Geld gekostet. Wir Deutschen waren bis dato stets die größten EU-Nettozahler, und gerade deshalb hat kein Land mehr von der europäischen Einigung profitiert als wir. Daher sollte das Land weiterhin seine erheblichen finanziellen Möglichkeiten im Interesse Europas und in wohlverstandenem Eigeninteresse einsetzen. Was macht die Koalition? Sie hält an der „Schwarzen Null“ fest – nicht nur ein nationales, sondern auch ein europäisches Desaster. Ein höheres EU-Budget und andere gezielte finanzpolitischen Maßnahmen wären gut investiertes „deutsches“ Geld, im ökonomischen und vor allem im politischen Sinne. Diese Zusammenhänge dürfen nicht weiter wie bisher ver- und beschwiegen werden, sie müssen offensiv erklärt werden; ein genereller Mangel Merkelscher Politik, seit jeher eine Politik ohne Überzeugungen.
Ein Jahr vor der Europawahl meinen bezeichnenderweise zwei Drittel der EU-Bürger und 75 Prozent hierzulande, dass ihr Land von der EU-Mitgliedschaft profitiere. „Europa“ muss also auch für die deutsche Politik wieder zu einer sinnstiftenden Erzählung werden, die Einfluss hat auf die Art, wie Politiker selbst Europa wahrnehmen. Nur so können letztlich ausreichend starke politische Kräfte gebündelt und das Land hinter der Europaidee versammelt werden.
Das Erfolgsrezept der Europäischen Integration war es, die unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bringen und zu einem größeren Ganzen zusammenzuführen. Das kann sie dann, wenn die Menschen spüren, dass Europa ihnen Sicherheit im umfassenden Verständnis gewährt. Macron hat das Stichwort geliefert: „Une Europe qui protège“– ein Europa, das schützt, indem es seine Kräfte bündelt und geeint nach außen agiert. Das sollte (wieder) das Credo deutscher Außenpolitik sein.