von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Besucher im Irrenhaus; eine Ballettrevue der Stars von morgen sowie ein leckeres Kochshow-Chaos …
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Irgendwie irre: Da verhüllt ein Spieler sein Gesicht, den ganzen Kopf mit einer starren Form, sagen wir: mit einer Maske, nur um damit eine besonders eindrücklich lebendige Figur zu schaffen. Freilich, allein schon die Verhüllung muss ein prägnantes Bild geben von der Figur. Hinzu kommt das gestisch genaue Spiel des Spielers, der ja ohne Sprache auskommen muss. Die fünf Spieler Fabian Baumgarten, Anna Kistel, Björn Leese, Benjamin Reber und Mats Süthoff des Figurentheaters Familie Flöz arbeiten natürlich nicht allein für sich an ihren Figuren. Vielmehr entstehen die in so ziemlich aller Welt bewunderten Stücke der berühmten Berliner Truppe im Kollektiv; auch deshalb „Familie“. In Improvisationen umkreist sie ihr Thema, sammelt dramatisches Material, lange bevor die Masken ins Spiel kommen – bis schließlich Maske(n) und Spiel(er) auf einzigartig spannende Art zur Kunstform Maskenspiel verschmelzen. Zu einem Gesamtkunstwerk, basierend auf einer ungewöhnlichen Story, die wiederum einen Stilmix aus Poesie, Tragik, Komik, Groteske provoziert bei präziser Zeichnung der Figurencharaktere. Raffiniert gestützt wird das Ganze durch Sound-, Licht- und Video-Effekte sowie ein Bühnenbild, das die vielen Spielortwechsel markant skizziert. Das alles zeigt in Vollendung die neue, in internationaler Kooperation entstandene Flöz-Produktion „Dr. Nest“ (Regie/Masken: Hajo Schüler, Michael Vogel; Bühne: Rotes Pferd/Felix Nolze).
Das Thema ist gewagt – also passend für Flöz. Und zugleich ist es jeden (graduell) betreffend: Dr. Nest ist nämlich, populär gesagt, ein Irrenarzt. Er kommt als Therapeut in eine geschlossene Anstalt. Diverse Fallstudien werden da demonstriert (großes Können im Spiel), ohne auch nur einen Moment lang die auf den ersten Blick so seltsam oder schrecklich leidenden Figuren vorzuführen, denen dieser Doktor auf einfühlsame Weise näher und näher kommt; zu denen er eine wundersame und zugegeben wunderliche Seelenverwandtschaft entdeckt (dem Publikum geht es ähnlich). „Dr. Nest“ ist ein grandioses, schmerzliches und komisches, durchweg zartes und zärtliches Stück über Empathie. Bewundernswert.
Wer es noch nicht weiß: Die Ursprünge von Familie Flöz liegen in der Folkwang-Hochschule Essen. Dort fand 1994 die Premiere von „Über Tage“ statt. Das Stück war eine Hommage an die Bergbau- und Arbeiterkultur des Ruhrgebiets – daher der Name „Flöz“. 2001 ging Flöz nach Berlin; 2013 wurde hier das Studio Flöz eingeweiht als „Produktions- und Kreationsstätte für internationales physisches Theater“.
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Endlich mal wieder volle Volksbühne Berlin, und das Publikum aus dem Häuschen. Ehrlich, seit langem war ich nicht so beglückt in einem Theater wie bei der Gala der Staatlichen Ballettschule Berlin – der jugendliche Elan und Charme, das aufblitzende frühe Virtuosentum, doch auch die geradezu kreatürliche Tanzlust verbunden mit einem heiligen Ernst, das alles macht einen Staunen und froh. Ist Spitze!
Doch was heißt da Gala, das klingt so unpassend nach Pomp. Es war schlicht eine hinreißende Show! Sie zeigte, was die Azubis alles (schon) können in einem mit pädagogischer Intelligenz, aber auch viel Witz komponierten Programm aus stilistisch-thematisch konträren Arbeiten zeitgenössischer Choreographen internationalen Ruhms. Sie alle wirken – ein Hoch der Direktion! ‑ an dieser Schule.
Für solche besonderen Auftritte (jenseits diverser Bühnen- und Fernsehpraktika oder Wettbewerbsteilnahmen sowie einem internationalen Studentenaustausch-Programm) wurde eigens das „Landesjugendballett Berlin an der Staatlichen Ballettschule“ gegründet. Für jeweils projektbezogen zusammengestellte Schulensembles, die im nationalen und internationalen Rahmen Auftritte haben. Diesmal nun die Produktion „The Contemporaries – Im Hier und Jetzt“, da besteht die Truppe aus geschätzt einem Halbhundert Schülerinnen und Schüler des ersten bis neunten Ausbildungsjahres. Gezeigt werden vier in sich geschlossene, aufregend spannungsgeladene, teils auch elegant humorige Choreographien von Wayne McGregor (England), Mauro de Candia (Italien), Marco Goecke (stammend aus Wuppertal) und schließlich vom Künstlerischen Leiter der Schule Gregor Seyffert. Ihre Arbeiten repräsentieren das Dreigestirn klassisch – modern – experimentell. Schon dadurch wird signifikant: An dieser Schule mit Studierenden und Lehrkräften aus zwanzig Nationen herrscht, was sonst, wenn sich alles um die „Weltsprache Tanz“ dreht, ein weit offener Geist. Schuldirektor Professor Ralf Stabel besetzt seinen Lehrkörper mit internationalen, teils weltberühmten Fachkräften, was auf optimale Vernetzung, einen guten internationalen Ruf des Instituts und nicht zuletzt auf Mut und Fantasie schließen lässt. Das pädagogische Konzept setzt prononciert aufs Moderne, Zeitgenössische, freilich ohne das Klassische zu vernachlässigen, und ermöglicht sowohl den Bachelor of Arts als auch das Abitur. Ab der 5. Klasse beginnt die neunjährige Ausbildung für gegenwärtig 98 Mädchen und 70 Jungen aus 27 Nationen.
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Auf der Bühne des Deutschen Theaters ein strahlendes Einbauküchengebirge. Zum kraftsportmäßig drin Herumturnen, zum partymäßig drin Herumtoben. Aber natürlich auch zum genüsslichen Verarbeiten phallisch aussehender Lebensmittel wie Gurken, Porree und – haha – weich läppischer Würstchen sowie, nicht zu vergessen, eine Tüte Eier. All das wird frohen Muts von einer Handvoll verwegener Kochkünstler fleißig verhackstückt, zusammengerührt, lustvoll sich gegenseitig in die Visagen verspritzt. So ungeniert, wie in dieser rüden Kochshow mit Fressalien umgegangen wird, so verhackstücken, verrühren und verspritzen Anja Schneider, Linn Reusse, Holger Stockhaus, Bozidar Kosevski und Marcel Kohler den von Rollen- und Figurenzuschreibungen völlig freien 93-Druckseiten-Fließtext von Elfride Jelinek „Am Königsweg“.
Die österreichische Literatur-Nobelpreisträgerin von 2004 schrieb ihn – flink wie sie ist – als Replik auf die Wahl Donald Trumps, freilich ohne ihn je beim Namen zu nennen. Schließlich geht es um Höheres. Nicht um die berühmte goldene Fönwelle, sondern eher um die weltweit grassierende Sucht selbst in altgedienten Demokratien nach – deshalb Würste, Gurken, Eier! – autokratischer Führung (da schlägt die Autorin noch kurz den Bogen bis in die Antike). Oder um Fremdenhass, Staatsschulden, Finanzkrise, Rechtspopulismus, Migration, Digitalterror, Genderschnickschnack, entgrenzten Wirtschaftsliberalismus, die Dummheit der Wähler wie der Gewählten bis hin zu hilflosem Heidegger-Wahn sowie depressivem Jelinek-Irresein (an sich, an uns, an der Menschheit).
Kurz: Es geht der hellsichtig verstörten Autorin um alles: Ums seit Kain und Abel andauernde Hauen und Stechen. Um die gefährlich ins Selbstzerstörerische driftende globale Schieflage. Da versagen auch die bislang probaten Diskurs- und Erklärmuster Links-Rechts (ach, Parteien; ach Ideologien). Da herrscht nur noch Chaos in unseren Köpfen, unserer Welt, in der von Katja Haß auf die DT-Bretter gesetzten Küche.
In der inszeniert, diesem Befund korrekt entsprechend, Regisseur Stephan Kimmig ein säuisches, eklig albernes, geistlos lächerliches, geistvoll groteskes, gern auch zynisches, sarkastisch mit Versatzstücken der Kulturindustrie um sich werfendes Chaos. – „Falls Sie Ihre Weltanschauung suchen; ich habe sie auch nicht“, schreibt Jelinek. Tja, eben.
Und eben diese Leerstelle, dieses allgemeine diffuse Gefühlt des Nicht-mehr-weiter-Wissens, diese entsetzlich allerorten grassierende Orientierungslosigkeit illustriert die Regie in einer knapp zwei Stunden wütenden Schlacht zwischen Spüle und Kühlschrank. Gestützt auf eine pfiffige Auswahl von Fetzen aus Jelineks Textkaskaden mit tsunamihaften Assoziationswellen.
Man kann das freilich auch ganz anders machen. Opernhaft ausladend von Kabarett bis Tragödie wie Falk Richter in vier satten Stunden zur Uraufführung im Hamburger Schauspielhaus (gerade jetzt beim Berliner Theatertreffen). Kimmig macht es kurz; quasi als übel stinkenden Hauptstadt-Furz – zum Gaudi des Publikums. Was zuvörderst an den bravourösen, locker hingerotzt performativen Höchstleistungen der sensationellen fünf Show-Artisten liegt.
Ein Überwältigungs-Happening als Menetekel an die Küchenwand und uns vor den Kopp gekloppt. Aber noch köcheln wir ja „gut drauf“ in unserem privilegierten Kochstudio. Aber wie lange noch? Da zucken selbst Nobelpreisträgerinnen ahnungsvoll, doch entnervt mit den Achseln. – Genau das wird auf der Bühne demonstriert.
Schlagwörter: Ballettschule, Deutsches Theater, Elfriede Jelinek, Familie Flöz, Reinhard Wengierek, Volksbühne