von Wolfgang Brauer
Die ersten Weltumsegelungen waren keine als solche geplante Fahrten. Selbst Magellan, der 1519 im Auftrage der spanischen Krone nach Westen aufbrach, wollte eigentlich nur die fixe Idee des Kolumbus, den westlichen Seeweg nach Ostasien zu finden, endgültig umsetzen. Die päpstliche Aufteilung der Erdkugel unter die beiden damaligen europäischen Großmächte Spanien und Portugal im Vertrag von Tordesillas hatte den Spaniern den kürzeren Weg um das Kap der Guten Hoffnung vermasselt. Die Rückfahrt der kläglichen Reste von Magellans stolzer Flotte von den Molukken nach Spanien glich denn auch mehr einer Flucht vor den portugiesischen Kriegsschiffen als einer Entdeckungsreise. Ähnlich erging es dem dritten Weltumsegler überhaupt, dem Engländer Francis Drake, der die Erde von 1577 bis 1580 umrundete – den Laderaum der „Golden Hinde“ voll mit spanischem Gold und Silber. Nach erfolgreichem Raubzug entlang den pazifischen Küsten beider Amerikas wagte Drake es nicht, den Rückweg um die Südspitze des Kontinents durch von spanischen Geschützen beherrschte Gewässer anzutreten. Die Alternative: Pazifik und Indischer Ozean …
Auch die Reise des florentinischen Kaufmanns Francesco Carletti, der sich mit seinem Vater Antonio am 8. Januar 1594 in Sevilla Richtung Kapverden einschiffte, sollte ungewollt zu einer Weltumrundung werden, der sechsten in der Geschichte der europäischen Seefahrt überhaupt. Francesco Carletti hatte Pech, das sei an dieser Stelle schon vermeldet: Durch geschickten Handel reich geworden, nahmen ihm auf der Rückreise von Goa niederländische Kaufleute, in jenen Zeiten waren die Grenzen zwischen Seehandel und Piraterie fließend, auf dem Atlantik in der Nähe von St. Helena seine vorzüglich in Edelsteinen und Perlen angelegte Rendite wieder ab. Ihm blieb nur noch übrig, dem Großherzog von Florenz, Ferdinand I. Medici, seinen Reisebericht vorzulegen. Der wurde in deutscher Fassung erstmals 1966 in der Übersetzung Ernst Bluths bei Erdmann aufgelegt.
Auch die Carlettis trieb die höchst profane Gier nach Geld auf den Ozean: Sie wollten am Goldkuchen des von den Historikern beschönigend „transatlantischer Dreieckshandel“ genannten Geschäfts mit afrikanischen Sklaven teilhaben. Auf den Kapverden kauften sie 75 „Sklaven für Indien“ (überteuert, wie Carletti jun. in seinem Reisebericht anmerkt) und brachten sie nach Cartagena de Indias (im heutigen Kolumbien). Dort war ihnen aber der Verkaufspreis zu niedrig, also transportierten sie ihre „Ware“ über Panama in das peruanische Lima, versilberten sie im wahrsten Sinne des Wortes und gingen anschließend über Acapulco nach Mexiko. Allerdings nur, um von dort – wiederum über Acapulco – direkten Weges über den Pazifik Manila auf den Philippinen anzusteuern. Eigentlich wollten sie weiter nach China, genauer nach Macao. Von den spanischen Philippinen in die portugiesische Kolonie … das ging nicht auf direktem Wege. Spanische Schiffe wurden dort nicht geduldet. Aber über das japanische Nagasaki gab es eine Möglichkeit. Die wurde mit großer Selbstverständlichkeit auch genutzt – in Macao starb allerdings Vater Antonio, Francesco setzte seinen Weg allein fort. Von Macao nach Malaka und Cochin (das heutige Kochi im indischen Bundesstaat Kerala), schließlich nach Goa, um sich von dort an Bord einer portugiesischen Galeone auf den Rückweg nach Europa zu machen.
Schon diese Route erscheint abenteuerlich genug. Carletti sah das entschieden nüchterner, gleichsam mit kaufmännischem Blick: Er rechnet genau vor, in welchem Monat man von welchem Hafen mit welchen Schiffen abfahren müsse, um … die von ihm gefahrene Route innerhalb von vier Jahren zu absolvieren – „allerdings unter der Voraussetzung, dass man immer die genannten Fahrgelegenheiten findet, was aber im Allgemeinen der Fall sein dürfte“. Wer nur die Seereise ohne Handelsaufenthalte machen wolle, benötige dafür nur „16 und einen halben Monat“. Faktisch legte Francesco Carletti im Jahre 1606 den allerersten Fahrplan für Handlungsreisende mit Welthandelsanspruch vor: „Es ist doch eine großartige Sache, dass jetzt jedermann mithilfe der Sprache dieser beiden Nationen und mithilfe ihrer Schiffe das wunderbare Erlebnis haben kann, sowohl über Ostindien als auch über Westindien in weniger als vier Jahren um das ganze Universum zu fahren.“
Selbstverständlich versah er seinen „Fahrplan“ mit äußerst präzisen Angaben über alles, was Handelsleute in jenen Jahrzehnten interessierte und wohl auch heute noch interessiert: Produkte der Länder, „Währungen“ mit recht präzisen Umtauschangaben, Informationen zu Ernährung und Gesundheitsfragen, Sprachen und Sitten der Bewohner der bereisten Länder, Mitteilungen zu Rechtssystemen und politischen Verhältnissen – bis hin zu detaillierten Berichten über die jeweiligen sexuellen Verhältnisse und Praktiken. Bei seinen potenziellen Lesern handelte es sich schließlich in der Regel um junge Männer, die monatelang auf ihren Schiffen eingepfercht waren. Und all das wird in einem Erzählstil berichtet, der von der ersten bis zur letzten Zeile fesselt.
Wenn wir heute eine zuweilen sehr akademische Diskussion über das Wesen und den Beginn eines Prozesses führen, den wir „Globalisierung“ nennen: Mit Francesco Carlettis „Reise um die Welt“ liegt seine Geburtsurkunde vor. Für diesen Kaufmann galt die Welt als entdeckt. Jetzt waren ihre ökonomischen Potenziale zu erschließen und zu vermarkten. Ländergrenzen, geografische Spezifika interessierten ihn nur so weit, wie sie sich für den Handel hemmend oder fördernd auswirkten. Handelskriege, die keine Erfindung der Ära Trump sind, hielt er für überflüssig, da sie sowieso auf ihre Initiatoren zurückfielen. Auf Embargos werde jeder mit Embargos reagieren, meinte er. Nutzen werde solche Politik keinem. Es ist schade, dass heutige „Entscheider“ viel zu wenig lesen!
Das Buch ist ein Höhepunkt in der verdienstvollen Reihe „Die 100 bedeutendsten Entdecker“ der Edition Erdmann. Viele Leser werden jedoch schmerzlich einen Erläuterungsanhang vermissen. Das sollte für die nächsten Auflagen dringend nachgeholt werden. Manche unglaubwürdig erscheinenden Mitteilungen Carlettis sind pure Tatsachen, bei manchen Dingen ging er – durchaus skeptisch – den Berichten Dritter auf den Leim, teilte diese aber dennoch mit. Er wusste, wie man Leser dicker Bücher bei der Stange hält.
Eines ist noch anzumerken: Carletti begann seine Tour um den Globus als Sklavenhändler. Er beendete sie in deutlicher Distanz zu den kolonialen Praktiken seiner europäischen Kollegen – unter welcher Flagge auch immer. Spätestens nach seinen Beobachtungen im spanischen Amerika war ihm der „koloniale Blick“ auf die außereuropäischen Völker abhandengekommen. Francesco Carlettis „Welterfahrung“ – im wahrsten Sinne des Wortes – brachte ihn geistig in eine deutliche Nähe zur europäischen Aufklärung. Dazu demnächst mehr am Beispiel eines anderen Weltenerkunders, der zudem den verzweifelten Versuch unternommen hatte, ausgerechnet den Deutschen – an deren geldgierigen Krämerseelen schon Carletti scheiterte – demokratische Verhältnisse beizubringen, die auf dem Grundsatz gelebter Gleichheit beruhen sollten.
Francesco Carletti starb 1636 mit 64 Jahren – zu Unrecht fast vergessen. Die erste Ausgabe seiner „Ragionamenti di Francesco Carletti Fiorentino sopra le cose da lui vedute ne’ suoi viaggi si dell’ Indie Occidentali, e Orientali Come d’altri Paesi“ (so viel wie: „Schlussfolgerungen des Francesco Carletti aus Florenz über die Dinge, die er auf seinen Reisen nach Westindien und den anderen Ländern des Ostens gesehen hat“) erschien erst 1701 in Florenz. Lassen Sie sich bloß nicht von diesem umständlichen Titel abschrecken!
Francesco Carletti: Reise um die Welt 1594. Erlebnisse eines Kaufmanns aus Florenz, Edition Erdmann in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2017, 320 Seiten, 24,00 Euro.
Schlagwörter: Francesco Carletti, Globalisierung, Sklavenhandel, Weltumsegelungen, Wolfgang Brauer