21. Jahrgang | Nummer 9 | 23. April 2018

Fritz Tucholsky und die amerikanischen Tuholskes

von Bettina Müller

5. August 1868. Der am 1. Mai 1815 in Zempelburg im ehemaligen Westpreußen als Sohn des Salomon Tucholsky geborene Neumann Tucholsky reist mit seiner Ehefrau Johanna geb. Arnfeld und den Töchtern Pauline und Clara mit der „MS Saxonia“ von Hamburg nach New York. Ein Jahr zuvor sind bereits ihre Söhne Gustav, Hermann und Max ausgewandert. Neumann folgt ihnen nur widerwillig. Er ist chronisch krank und möchte nicht alleine zurückbleiben, doch er fremdelt stark mit Amerika. In seinem neuen Wohnort St. Louis im heutigen Bundesstaat Missouri wird er ein sehr abgeschiedenes Leben führen und sich außerhalb seines Familien-„Kokons“ fast nur unter anderen deutschen Auswanderern bewegen.
Er hält es daher auch nicht für nötig, die englische Sprache zu erlernen. Sein finanzielles Auskommen ist zunächst durch Pensionszahlungen aus seiner alten Heimat gesichert, wegen eines „Halsübels“ hat er seine Lehrertätigkeit in Meseritz im Kreis Posen auf ärztlichen Rat aufgeben müssen. Am 1. Juni 1885 werden die Zahlungen jedoch eingestellt, weil Neumann es aus Unkenntnis eines neuen Gesetzes versäumt hat, den Nachweis zu erbringen, dass er per „Eintragung in die Matrikel des deutschen Consuls“ seine Staatsangehörigkeit erhalten hat. Nun ist er gezwungen, schnellstmöglich die amerikanische Staatsbürgerschaft zu beantragen, wogegen er sich jahrelang gesträubt hat, weil er in seinem „[…] Denken und Fühlen preußisch und deutsch war und immer bleiben wollte“, wie er es in einem Schreiben an die Preußische Regierung betont. Am 19. April 1886 wird er schließlich doch Amerikaner und aus Neumann Tucholsky wird Newman Tuholske. Der weitere Lebensweg der Tuholskes ist eine Erfolgsgeschichte, die jedoch erst in der nächsten Generation einsetzt. Neumanns Sohn Hermann, ein hoch dekorierter Chirurg in St. Louis, erhält einen eigenem Eintrag in der Amerikanischen Nationalbiographie, in Akron (Ohio) leben weitere Verwandte der Tucholskys, der Arzt Dr. Morris Tuholske mit seiner Familie. Hermanns Tochter Rose engagiert sich in zahlreichen karikativen Einrichtungen.
1899 unternimmt sie mit ihrem Vater eine ausgedehnte Europareise, bei der sie auch Station in Berlin machen. Dort kommt es zu der einzigen Begegnung mit dem damals neunjährigen Kurt Tucholsky: „He called me – the cousin from Amerikka“, beschreibt Rose in einem Brief an Kurts zweite Ehefrau Mary seine Reaktion. In Berlin lernt Rose auch ihren zukünftigen Ehemann, Dr. Ernst Jonas, kennen. Ihre Ehe bleibt kinderlos. Am 2. März 1934 stürzt sich Ernst Jonas aus Sorge um seine Geschwister, die er in Deutschland in Lebensgefahr wähnt, in St. Louis aus dem 17. Stock eines Hochhauses.
Frühjahr 2018. Im Briefkasten der Autorin liegt ein Umschlag, darin ein bei einer Onlineauktion ersteigertes Dokument, das in Kissee Mills im Bundesstaat Missouri bei einer Haushaltsauflösung zum Vorschein gekommen ist. In unmissverständlicher Anlehnung an die Reichsfarben halten schwarz-rot-gelbe geflochtene Fäden eine vierseitige und drei Mal gelochte „Urkunde über die Erteilung des Patents 561954“ aus dem Jahr 1930 zusammen. Der Patentinhaber trägt einen berühmten Nachnamen: Fritz Tucholsky. Die Farben leuchten wie frisch gestärkt. Zunächst verläuft der Strang noch wohlgeordnet und gradlinig. Ein weißes Siegel des Reichspatentsamts soll am Ende vereinen und zusammenhalten. Doch auf der anderen Seite des Siegels brechen sie aus, begehren auf, Fäden und Farben vermischen sich, und nichts ist mehr so, wie es einmal mal war, und auch die Farben wirken auf einmal abgestumpft. „Deutschland, Deutschland über alles“ nennt Kurt Tucholsky 1929 sein deutsches „Bilderbuch“, das schonungslos das graue Land entlarvt, das seine Deutschen scharenweise in die Emigration treiben wird, nur weil sie eine andere Religionszugehörigkeit haben.
1933 packt auch Fritz Tucholsky, der 1896 in Stettin geborene, sechs Jahre jüngere Bruder Kurts, seine Koffer. Ursprünglich hat er Maschinenbau studiert, 1933 wird er auf Druck der Nationalsozialisten aus dem Berliner Ausstellungs-, Messe- und Fremdenverkehrsamt entlassen. Fritz befürchtet, dass sie ihm wegen seines berühmten Bruders, der sie verbal auf das Schärfste bekämpft, nach dem Leben trachten könnten, und so flieht er zunächst nach Prag. Kurt versucht ihn zu überreden, dass Amerika für ihn die beste Wahl sei. Doch Fritz sträubt sich und will auch nicht an Rose Tuholske schreiben. Für Kurt selber kommt Amerika nicht in Frage, keinesfalls möchte er zu der „schauerlichen Bande“, wie er die Amerikaner pauschal vorverurteilt, ohne jemals einen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt zu haben. Seine Ablehnung hat nichts mit Identität und Nationalbewusstsein zu tun, sie resultiert vielmehr aus einem verzerrten und auch stark schwankenden Amerikabild, dass aus den Amerikanern gerne eine konsumhörige „Unkultur“ macht. Im Frühjahr 1934 schreibt Kurt schließlich an Rose Tuholske, er hat Fritz umgestimmt und sie wird für ihn vermitteln. Als Verwandte in Amerika (cousin) ist sie auch auf der Passagierliste vermerkt, als Fritz am 26. September 1935 in Antwerpen die lange Seereise auf dem Dampfschiff „Henri Jaspar“ antritt.
Am 6. Oktober erreicht er den Hafen von New York. Mit im Gepäck hat er die Patentschrift, die für mögliche Bewerbungen noch hilfreich sein kann. Er kommt bei der Familie von Samuel Weintraub in New York unter, dessen Schwiegervater, der 79jährige David Tuholske, ein Sohn des preußischen Lehrers Moritz Tucholsky ist, dem Bruder Neumanns. Am 3. Dezember 1935 stellt Fritz sein offizielles Einbürgerungsgesuch. Von seiner (evangelischen) Ehefrau, der Gewerbelehrerin Gertrud Riesch, hat er sich nach nur einjähriger Ehe scheiden lassen, damit sie in Berlin nicht durch den Namen Tucholsky gefährdet ist. Am 7. Januar 1936 erreicht ihn die unfassbare Nachricht: sein Bruder Kurt lebt nicht mehr, gestorben am 21. Dezember 1935 an einer Schlafmittel-Vergiftung (Intoxicatio veronalis). In seiner Verzweiflung weint Fritz „wie ein Kind“, der Verlust des Bruders ist unermesslich groß: „Denn es war doch immer ein dickes Band zwischen uns und wir haben immer so nett und freundlich, aber wirklich ganz fest zusammen gehalten“. Der Briefwechsel der Brüder zeugt davon, dass sie sehr aneinander hängen. Kurt maßregelt Fritz vermeintlich streng oder neckt ihn, gibt aber auch fürsorglich Ratschläge. Zumeist redet er Fritz mit „Cohn“ an, eine völlige Ironie, denn die Cohen sind die Hohepriester der Juden, doch beide sind schon längst aus der Jüdischen Gemeinde von Berlin ausgetreten. Von jeher bilden die Brüder und ihre Schwester Ellen auch eine vereinte Front gegen die Mutter Doris. Vor allem die Briefe Kurts zeugen von einer sehr ablehnenden Haltung ihr gegenüber. Noch kurz vor ihrer Deportation nach Theresienstadt bedauert die hoch betagte Berta Tucholsky ihren Neffen Kurt zutiefst, der in seiner Kindheit „ohne Mutterliebe“ aufgewachsen sei.
Fritz überlebt seinen Bruder nur wenige Monate. Am 3. August 1936 holen ihn Samuel und Myrtle Weintraub auf der Rückreise von ihrem Urlaub mit dem Auto in Akron ab. Dort ist Fritz vorübergehend im Haus der Familie von Dr. Morris Tuholske untergekommen, der wenige Wochen zuvor gestorben ist. Auf der Route 22 in der Nähe von Bethel versucht Samuel ein Überholmanöver und prallt frontal mit einem Wagen zusammen. Fritz Tucholsky ist der Einzige im Wagen, der nicht überlebt. Um 19.30 Uhr erliegt er im Homeopathic Hospital in Reading seinen schweren Verletzungen: einem Schädelbruch sowie mehreren gebrochenen Rippen.
Fritz und Kurt Tucholsky hat die Emigration vorzeitig das Leben gekostet. An seinem Grab in Schweden kann man des Schriftstellers Kurt Tucholsky gedenken. Fritz Tucholskys Urne ist verschollen. Die Spur verliert sich früh. Der Bestatter in Reading schickt sie nach St. Louis, wo Rose Tuholske sie in Empfang nimmt, vermutlich mit dem Auftrag, sie nach Deutschland an Gertrud Riesch beziehungsweise an eine Tarnadresse zu schicken. Ob und wann dies überhaupt geschah, muss ein ungelöstes Rätsel bleiben. Was von einem Menschenleben übrig bleibt, ist eine nüchterne Urkunde, die einmal einem Deutschen gehörte, der keiner mehr sein durfte. Doch die Farben leuchten noch.