21. Jahrgang | Nummer 7 | 26. März 2018

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Männerspagat im Varieté, Castorf-Spiele im Kino…

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Acht junge Leute, ein bisschen abgerissen, ein bisschen freakig aufgemotzt, die trollen sich an den mit Getränken und feinem Futter vollgestellten Tischen vorbei durchs animierte Publikum, flachsen, scherzen mit den Leuten, verblüffen mit harmlos-lustigen Kunststückchen. Es ist so, als seien sie launig unterwegs zu einer womöglich ziemlich undergroundigen Party irgendwo in Berlin in einem höchstens bei Insidern wahnsinnig angesagten Schuppen – ein Mix etwa aus Fabrikhalle und Kellerloch. So nämlich sieht die Bühne auch aus, auf der die acht Performer sich breit machen, um sie gleich mal richtig zu rocken. Mit einem gelenkigen Schwof; doch was heißt da Schwof und gelenkig. Vielmehr steigert sich das Opening der neuen Chamäleon-Show mit dem (sinnlosen) Titel „Finale“ zu einem – freilich perfekt trainierten – bodenakrobatischen Chaos. Dazu links, an einer kleinen Wodka-Bar (man streut generös Fingerhut-Gläser unters Volk), am flippigen Ausschank also, eine exotisch sich windende Sängerin: Ena Wild. Auf einem Gerüst in der Mitte haut Schlagzeuger Lukas Thielecke Beats durch wabernde Nebelschwaden und zuckende Lichtkegel. Rockpalast-Feeling.
Das Chamäleon-Theater Berlin im lauschigen Ambiente eines Ballsaals aus der Kaiserzeit sieht sich – und zwar mit Recht, wie wir seit längerem beobachten, ‑ „als Schrittmacher für den Neuen Zirkus im deutschsprachigen Raum“. Seit einigen Jahren entwickelte es mit einer internationalen Schar Jungkünstler höchst erfolgreiche Programme, die artistische Glanznummern in einen komödiantischen, gern auch großstädtisch rotzigen Kontext stellen. Witz bis hin zur Blödelei sowie Charme und Coolness sind dabei wichtiger als Glamour und glitzernder Kostümfuror. Und oft sind es die ganz einfachen Dinge, die da, ingeniös eingesetzt oder spitzbübisch manipuliert, den großen Effekt machen, den Überraschungscoup liefern. So geht es auch in dieser Show von Florian Zumkehr, die ordentlich Spaß, Krach, Musik und Harlekinaden macht mit Bertan Canbeldek, Ole Lehmkuhl, Richie Maguire, Manda Rydman, Carios Zaspel, mit Wild, Thielicke und eben Zumkehr. Und die zwischendurch immer wieder staunen lässt über das, was da wagehalsig abgeht zwischen Party-Himmel und Bühnenboden.
Den atemberaubendsten Hingucker liefert freilich der beständig clownesk herumtobende Akrobat Richie Maguire, wenn er, angetan bloß mit keckem Goldhöschen, den Männerspagat demonstriert. Zunächst steht er mit je einem Fuß auf zwei wackeligen Hochpodesten, die dann seine Kollegen wie zwei Brückenpfeiler langsam auseinander ziehen – und Richie macht die Brücke. Erst stöhnt der Saal vor Angst, dann tobt er. Bis jetzt, so ist zu hören, ist der gelenkige Richie bei seiner so grotesken wie gefährlichen Luftnummer nicht auseinander gebrochen, sondern betreibt mit gesundem Leib und frechem Kopf unentwegt seine feinen oder auch groben Späße. – Die Zirkus-Show als dickes Überraschungsei; gerade passend ins familiäre Osternest.

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Schauspieler Henry Hübchen, Castorf-Star der frühen Jahre, erklärt schlüssig, worauf man sich einzustellen hat, will man Inszenierungen von Deutschlands berühmtestem Regisseur Frank Castorf gucken – neuerdings jenseits der Berliner Volksbühne, in gefühlt allen größeren Städten deutscher Sprache: Es sei wie im Fußball, sagt old Henry. „Auch wenn Castorf-Spiele ein wenig länger als 90 Minuten gehen, würde man beim Fußball niemals das Zuschauen abbrechen, weil das Match zwischendurch bloß so vor sich hin plätschert. Könnte ja ein Tor fallen.“ Auch für Castorfs Sport gelte die einzig wahre Fanhaltung: „Bleiben. Durchhalten. Dann wird’s ein Genuss!“
Das Durchhalten heißt jetzt (das war anfangs nicht so) mindestens acht Stunden. Das gilt mittlerweile als Kult. Genuss braucht Sitzfleisch. Überforderung vor, auf und hinter der Bühne ist zum C-Prinzip geworden; jedenfalls heutzutage. Ob Acht-Stunden-Spiele auch hartgesottene Liebhaber künftig bei der Stange halten, bleibt abzuwarten. Gegenwärtig und erst recht nach Castorfs von der Kulturpolitik verordnetem Volksbühnen-Abgang im Sommer letzten Jahres ist olle Frankie auf der absoluten Höhe seines Ruhms selbst bei Leuten, die es ansonsten nicht länger als 100 Minuten-Kinolänge im Theater aushalten. Ein junger Wilder, aus dem kein alter Milder (66) wurde.
Das feiert denn anrührend und hingebungsvoll der Castorf-Kinofilm „Partisan“ (Regie: Lutz Pehnert, Matthias Ehlert, Adama Ulrich; Kamera: Wolfgang Gaube; Musik: Moritz Denis). Den taffen Titel spendierte der Bewunderte höchst selbst mit einem eigentlich banalen Zitat, das für jeden wahren Künstler zu gelten hat: „Theater ist der letzte Partisan, es muss aus dem Hinterhalt schießen.“ Wohin? Natürlich mitten hinein in die Gesellschaft. Wohin sonst. Martin Wuttke sagt es schlichter: „Wir kannten nur eins: Haut se, haut se, immer auf die Schnauze!“
Frank Castorfs weltweit Epoche machenden Schläge in seiner Zeit als Chef der Volksbühne (1992–2017) blättert dieser Film lakonisch auf, garniert mit Witz und frechem Charme. Immerhin, erinnert sich Sophie Rois, „war Anfang der Neunziger, als wir hier anfingen, alles für alle nur Dreck“. Oho! ‑ Alexander Scheer, der einst als 16-Jähriger die „Räuber von Schiller“ sah, erinnert bloß „einen Haufen Schwerstgestörter. Die machten unglaublich Druck auf der Bühne. Die meinten irgendwas verdammt ernst. – Aber was?“ Nun, es war die Wut auf eine schnöde Welt und der Traum von einer besseren, was alle Welt alsbald kapierte und begeisterte.
Aber nicht nur. Denn Castorfs gelegentlich immer wieder vorkommendes An-der-Schnauze-Vorbeihauen oder sein hochmütig-elitäres Zielen am Publikum vorbei ins Leere sonderlich in der flauen, der ziemlich ungenau zielenden Überdruss-Zeit des Volksbühnen-Jahrzehnts zwischen 2005 und 2015, das blendet der Film natürlich aus. Das große dialektische, theaterwissenschaftlich fundierte Castorf-Volksbühnen-Bild wäre mithin noch zu zeichnen.
Jetzt also Leinwand-Lorbeer satt. Bewunderung, gestützt durch Beobachtungen bei der ungeahnt nervenzerfetzenden Regie-Arbeit (vornehmlich am vermächtnishaften „Faust“-Monstrum). Und natürlich durch die Fülle der Inszenierungs-Schnipsel aus einem Vierteljahrhundert Castorf-Volksbühne. Dazu gehören unbedingt auch Castorfs von ihm mehr oder weniger geliebte Kollegen, die er angeblich generös machen ließ („Loofen lassen!“) – was wir nicht ganz glauben wollen. Hier die wichtigsten Namen derer, die bei ihm durften: Marthaler, Kresnik, Schlingensief, Pollesch, Fritsch, Hartmann oder Gotscheff. Eine faszinierende Bilder-Revue der Gegensätzlichen. Auch: der dem Chef Entgegengesetzten.
Auf der stalinistisch breiten, blümchenbemusterten Couch der von den Sowjets inspirierten Original-Nachkriegs-Wiederaufbau-Ausstattung im Parkett-Foyer der Volksbühne sitzt ein Teil der großen Castorf-Familie zum grüblerischen Abfeuern liebevollster Statements auf des Meisters Ruhmesblätter in der europäischen Theatergeschichte: Angerer, Rois, Stangenberg, Fritsch, Hosemann, Hübchen, Scheer, Wuttke oder Bühnenarbeiter und Souffleuse. Da bekommt auch der Unkundige eine Ahnung davon, was dieses Theater ausgemacht hat. Nämlich nicht allein Star-Dust, Bilderschlachten, Textorgien, Popkonzerte, Sportwettkämpfe, sondern auch eine durchweg grandiose handwerkliche Meisterschaft – beispielsweise der bis heute autonomen Werkstätten. Oder die schrittweise Entwicklung des furiosen Video-Einsatzes. Oder das Volksbühnen-Design von Bert Neumann einschließlich des Räuberrad-Logos, das als meterhohe Skulptur vor der Fassade auf dem Rasenstück des Rosa-Luxemburg-Platzes fest verankert wurde und nach Castorfs Abgang nur mit schwerer Technik abzubauen war. Jetzt liegt das anarchisch-kraftvolle, eiserne Symbol der Rücksichtslosigkeit wie der Sehnsucht nach Gerechtigkeit gut verpackt in einem Depot.
Sophie Rois, aus Österreich kommende Königin im Castorf-Imperium, erklärt aufgeregt ein vermeintliches Paradoxon und sagt: „Wir sind die Traditionalisten!“ Frank sei ein echter Theatermann, der tolle Geschichten erzähle. „Aus Blut, Schweiß, Sperma, Kacke.“ Doch er wisse immer um Wirkung. „Es mag ja sein, dass wir hier unsere Ärsche zeigen, doch der König hat bei ihm stets die Schlusspointe. Auch ich, falls angetreten als Königin, hatte immer das letzte Wort. Traditionsgemäß. Wer wenn nicht wir sind also die Traditionalisten im Betrieb.“ – Da staunste…!