21. Jahrgang | Nummer 7 | 26. März 2018

Altersschwächen

von Erhard Weinholz

Zu DDR-Zeiten war ich hin und wieder beim Herausgeber und Übersetzer Norbert Randow zu Gast. Zwanzig Jahre älter als ich, hat er mir im Gespräch mancherlei vermittelt. Zum Beispiel habe ich erst dank seiner Hilfe begriffen, was es mit den beiden Konjunktiven im Deutschen auf sich hat. Über Goethe sagte er einmal, er sei als Dichter so groß gewesen, dass er auch mal schlampen durfte; wir kleineren Geister dagegen müssten immer das Äußerste geben, es sei selbst dann noch mangelhaft genug. Weisheit des Alters hatte ich gedacht und mich in meiner Arbeitsweise bestätigt gefühlt. Er war überdies enorm belesen; umso mehr erstaunten mich daher seine gelegentlichen Wissenslücken. Zentrum der Macht im Lande war damals das Politbüro des ZK der SED; gut zwanzig Mitglieder hatte es in den späten Achtzigern, und von allen wusste ich Name und Funktion. Eines Tages nun stellte sich heraus, dass Herr Randow – wir siezten uns – nur zwei davon kannte: Erich Honecker, den man in der DDR einfach kennen musste, und ZK-Sekretär Kurt Hager, der ihm, Randow, gelegentlich das Leben schwer gemacht hatte. Würden auch mir, so fragte ich mich darauf, eines Tages die Politbüromitglieder allesamt schnuppe sein? Ich konnte es mir nicht vorstellen.
Ein Politbüro haben wir nicht mehr, statt dessen … wie heißt denn der Laden heute? Ach ja, ein Bundeskabinett. Angela Merkel sitzt darinnen, die kennt man. Die Minister für Inneres, Äußeres, Verteidigung ebenso. Finanzen macht wohl immer noch der Schäuble. Aber wer ist Chef im Ministerium für Wirtschaft, für Verkehr, für Arbeit und Erholung – oder heißt es Arbeit und Vergnügen? Ich bin doch sehr unwissend. Und zwar, weil ich keine Zeitungen mehr lese. Höchstens ein bisschen Feuilleton und die Schlagzeilen an den Kiosken: Berlin sagt Pfui: Rentner isst Hundefutter! Es ist schändlich, dass ich mich als Sozialist kaum noch für Politik interessiere, aber ich kann es nicht ändern. Man hat im Alter ohnehin schon genug Sorgen.
Zwar könnte ich auch sagen: Was bleibet, stiften doch nicht die Minister! Aber meine Lust an der Dichtung ist im Laufe der Jahre ebenso geschwunden. Als Schüler habe ich die 950 Seiten von Galina Nikolajewas höchst spannendem Entstalinisierungsepos Schlacht unterwegs nebenher in drei oder vier Tagen gelesen. Heute würde ich dafür drei Monate brauchen. Also wage ich mich an solche Formate gar nicht mehr heran, frage mich zudem, ob sie denn sein müssen. Fontane kam bei seinen Romanen mit 250 Seiten aus, nur der vielgerühmte Stechlin ist erheblich länger; am Lebensende fehlte ihm wohl die Kraft, Geschwätziges zu tilgen.
Vor allem aber: Wo sind die Bücher, die mich in ein geheimnisvolles besseres Land versetzen? Ehedramen, Lebenspleiten, Killerbeichten, sie alle können mich nicht mehr reizen. Und schon gar nicht die beliebten Familiengeschichten vor dem Hintergrund deutscher Geschichte: Der Großvater mütterlicherseits war … na was schon? Kommunist natürlich. Außerdem jüdisch und schwul. Damit ist das Soll erfüllt. Seine Frau stammt aus uraltem byzantinischem Hochadel. Die andere Großmutter dagegen ist aufgestiegen aus den Tiefen des Berliner Lumpenproletariats, war 1944/45 Klofrau im Bordell des Reichsführers SS. Das war deine größte Zeit, nicht wahr Oma? Oma (mit grässlicher Hexenstimme): Nicht nur meine, auch Deutschlands größte Zeit! Völlig unbelehrbar. Zu Hause wurde noch lange mit Heil Hitler! gegrüßt. Nächste Generation: alles Sonderlinge oder Terroristen. Einer sitzt jahrzehntelang am eigenen Horoskop, ein anderer ebenso lange im Knast. Und so weiter.
Neulich habe ich mich doch noch einmal zum Lesen verführen lassen – hatte auf einem Fenstersims ein Buch zur Berliner Baugeschichte gefunden; um Schinkel und Behrens geht es da, um den Reichstagsbau von Paul Wallot. Die Polemik um Formgestalt und Stilsprache der Architektur des Reichstages, so beginnt dieses Kapitel, war lebendig und widersprüchlich … Seit wann polemisiert man um etwas? Streiten kann man um etwas, polemisiert wird gegen. Die Polemik war widersprüchlich – was soll denn das bedeuten? Und ist die Formgestalt die Gestalt der Form, die Form der Gestalt? Keine Ahnung. Nee danke, werter Herr Professor B.
Bilder anschauen dagegen, das geht immer noch. Die Heimat hat sich schön gemacht auf Ansichtskarten vom Fichtelberg bis Kap Arkona, im Märchenwald aus Pappe trifft Herr Fuchs sich mit Frau Elster, das Sandmännchen geht auf die Reise, und Mecki von der Springerpresse tut so, als sei er immer vergnügt. Gesammelt habe ich auch Weihnachts-, Oster- und Pfingstkarten – wer schreibt heute noch Pfingstkarten? –, Karten zum ersten Schultag und Briefumschläge mit Sonderstempel: Hundert Jahre alt ist die freiwillige Feuerwehr Belzig, als die dortige SED-Kreisleitung sich an Gen. Karl Weinholz in 1825 Wiesenburg wendet. Am schönsten sind die sowjetischen Glückwunschkarten zum Neujahrsfest und zum 1. Mai aus den 50er und 60er Jahren. Glückliche Menschen beim Feiern sieht man auf den Maikarten, frohe Mütter, vergnügte Kinder. Aber ist das nicht alles verlogen und purer Kitsch? Wieso – es wurde doch tatsächlich gern gefeiert an jenem Tage. Miesmacher könnten allenfalls einwenden, inmitten eines schäbigen Alltags sei das Feiern selbst schon die Lüge. Suff, Streit und Prügelei, die es gern begleiten, sind auch sonst kein Thema für Glückwunschkarten – insofern könnte man sie alle kitschig nennen. An solch bildlichem Kitsch kann ich mich aber, anders als an literarischem, ganz ohne Ironie erfreuen: Hier wird das bessere Leben endlich wahr.
Manches also ist mir geblieben, anderes ist dahin. Auf die Weisheit des Alters, die es ausgleichen könnte, warte ich bislang vergebens. Stellt sie sich vielleicht erst ein, wenn die Verluste wirklich schmerzhaft waren? Dann würde ich, hätte ich die Wahl, lieber auf die Weisheit verzichten.