21. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2018

Woran liegt’s bei der Linken?

von Stephan Wohanka

Teilen des Feuilletons gilt es als ausgemacht, dass es keine politischen Lager und keine politischen Konflikte mehr gäbe. Dafür viel Hysterie und Nostalgie, von links wie von rechts, und beides bedinge und befördere sich und mache die Lager nicht mehr unterscheidbar. Ja, tatsächlich? Nein, eine empirisch kaum belegbare Beschreibung dessen was ist:
Die einst stolze und fortschrittliche Linke ist zur Verliererin geworden, weil sie keine für eine Mehrheit begreifliche Vorstellung mehr davon hat, wie das Land, in dem wir leben, eigentlich aussehen sollte. Es gibt eine tief sitzende Anti-Regierungs-, Anti-Globalisierungs-, Anti-Elite-Hysterie in Teilen der Bevölkerung. Diese kollektive Verdrossenheit ist eine manifeste politische und eine kulturelle Realität in weiten Teilen der westlichen Welt. Inzwischen kann man sagen, dass die Wirtschaft sich vielleicht von der Rezession erholt hat, die Gesellschaft aber noch lange nicht. Linke Politik scheitert seit gewisser Zeit mit dem Versuch, diese Spaltung zu überwinden und (wieder) eine Gemeinschaft zu formen, die möglichst viele einschließt. Stattdessen fällt die Linke auf ihre eigenen Befindlichkeiten zurück, hat ihre klassischen Themen wie die soziale Frage zugunsten einer individualistisch orientierten Politik aufgegeben. Im Fokus stehen Minderheitenrechte: „Den größten Streit hatten wir um die Toiletten“. Links blickt nicht nach außen, es blickt auf sich selbst. Es spricht nicht von anderen, sondern von sich; die Nöte abhängig Beschäftigter stehen nicht im Mittelpunkt seiner Politik. Es betreibt eine „Politik des Narzissmus“ (Mark Lilla). Eine Langzeitstudie zeigt, dass die Linke ein grundsätzliches Problem hat: Die Wählerschaft bestehe mittlerweile mehr aus „jüngeren, akademisch gebildeten Mitgliedern und Wählern in urbanen Zentren“. Die habituellen Bindungen zu ihren tradierten (Wähler)Milieus sind verloren gegangen.
Der Hintergrund dessen ist, dass die Linke quasi aus zwei kulturell unterschiedlich verwurzelten Formationen besteht. Beide haben sich historisch gebildet und sind mitursächlich für die Probleme der Linken (miteinander): Es gibt die ältere soziale Linke; das sind die (alten) sozialen Bewegungen, also Arbeiterbewegung, Gewerkschaften und auch der Staatssozialismus. Sie treten für Gerechtigkeit durch materielle Umverteilung ein. Die Ökonomie wird als Zentrum der Gesellschaft angesehen, vorrangiger Akteur zur Herstellung von Gerechtigkeit ist der Staat. Und dann gibt es die oben schon erwähnte – und heute dominante – kulturelle Linke; hervorgegangen aus den so genannten neuen sozialen Bewegungen wie der feministischen und der Schwulenbewegung, Bürgerinitiativen, kulturellen und antirassistischen Initiativen. Sie fordern zwar auch eine materielle Umverteilung, betonen aber stärker die Herstellung von Gerechtigkeit durch die Anerkennung von Differenzen, Akteure sind Staat und Zivilgesellschaft.
Ein Projekt, mit dem die Linken und DIE LINKE Aufmerksamkeit generieren konnten, war Oskar Lafontaines Ansinnen, eine linke Sammlungsbewegung ins Leben zu rufen. Er könnte, so waren Gerüchte hochgekocht, gemeinsam mit Sahra Wagenknecht den Versuch wagen, etwas Analoges zur Bewegung „La France insoumise“ des französischen Linkspopulisten Jean-Luc-Mélenchon hierzulande zu gründen. Mélenchon holte bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich immerhin knapp 20 Prozent. Eine linke Sammlungsbewegung kann machtpolitisch vorteilhaft sein; sie wäre die Alternative zur „ewigen“ Merkel samt Großer Koalition.
Aber ich fürchte, dass das nicht funktioniert; aus strukturellen Gründen. Das rechte Spektrum gründet auf Anpassung, auf Bewahrung, auf Autorität und kann sich daher leichter einigen; wenn es sein muss unter Zwang. Die Linke dagegen steht heute mehr denn je für den Drang nach Emanzipation, nach persönlicher Befreiung und Widerspruch; das Individuelle ist prägend. Linke politische Mobilisierung kommt heutzutage so weniger durch eine Partei, eine Ideologie, vielleicht noch durch wirtschaftliche Zwänge zustande, sondern speist sich eher durch Merkmale der eigenen Identität: Ich fühle links, ich bin links. Und: Wer kann den winzigen oder ganz und gar unverständlichen Unterschied zwischen linken Nachbarn noch nachvollziehen? Um es am kleinen Karo zu zeigen – vermag noch irgendjemand einen politischen Sinn in dem Machtkampf zu finden, den sich Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller und der SPD-Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus Raed Saleh liefern? Oder im hasserfüllten Linkspartei-Dauerzoff zwischen Sarah Wagenknecht und Katja Kipping? So muss die Idee einer linken Sammlungsbewegung – vorerst zumindest – eine unrealistische Vorstellung bleiben.
Was sollte die Linke tun? Häufig ist jetzt zu hören, sie sollte damit aufhören, nationale Identitätsfragen arrogant abzuwehren. Sie sollte den Begriff Heimat nicht mehr allzu flott verächtlich machen und damit beginnen, die doch legitimen Bedürfnisse von Menschen nach kultureller Geborgenheit ernst zu nehmen. Und sie sollte verstehen, dass beides zusammen mehr ist als eine gut funktionierende soziale Infrastruktur. Zwar mag der im linken Spektrum verbreitete Abwehrreflex gegenüber dem Ungefähren und Diffusen und damit Gefährlichen von Begriffen wie Nation, Volk, (deutsche) Kultur verständlich sein, zumal mit Blick nach rechts, auf die Reinheitsphantasien von Konservativen und Nationalisten; aber diese Abwehr, dieses Nicht-Wahrhaben-Wollen dieser kulturellen Herausforderungen mache es politisch hilf- und einflusslos!
Ich halte dieses Rezept für falsch. Die Linke sollte vielmehr politische Erbin der analytischen Vernunft und der rationalen Debatte sein. Und dies auf dem Hintergrund, dass der Mensch auf Ganzheit, auf Gemeinschaft aus ist, dass er sich in diese Welt als geschichtliches Subjekt einbringen will. Die Linke sollte zu den Werten der Aufklärung und gegen den neuen Irrationalismus der postmodernen Romantik und der „Neuen Rechten“ stehen. Dieser Rechten gelang es bislang nicht (und vielleicht ist das auch nicht gewollt), eine Trennung zwischen ihrer politisch-populistischen nationalistischen Spielart und dem „reinen“ Kulturpessimismus vorzunehmen. Das habe eine Unschärfe, Vermengung zur Folge, die erkläre, warum die deutsche eine „verängstigte Gesellschaft“ sei, wobei ihn „dieses ständige Gerede inzwischen regelrecht wütend“ mache, „weil es die Angst selbst erst hervorruft, die es behauptet“ (Harald Welzer).
Politik und Medien machen dabei munter mit; viele ihrer Äußerungen sind von einer sprachlos machenden Verantwortungslosigkeit getragen. Die Freude am Misslingen anderer, kindischer Jubel über jeden Fehlschlag in der Hoffnung, dass das jeweilige politische Projekt doch scheitern möge, prägen in weiten Teilen den öffentlichen Diskurs. Auch dagegen sollte die Linke Front machen. Und dabei in Rechnung stellen, dass Politik ein Beruf ist, der sowohl der Kraft für Visionen als auch der tiefen Kenntnis der Materie bedarf. Heute kommt erschwerend hinzu, dass die Bevölkerung und ihre Meinungsträger respektive -macher jedwede politische Aktion in Echtzeit kommentieren. Es liegt in der Natur des schnellen Kommentars, dass er nur oberflächlich sein kann. Desgleichen sollte die Linke dem Hang zum Politiker-Bashing – nicht zu verwechseln mit sachlicher, auch scharfer und fundamentaler Kritik an ihnen und ihren Taten, Vorhaben oder Unterlassungen – als einer Form des Eliten-Hasses entgegentreten. Dahinter – man denke an unsere Geschichte – scheint das Totalitäre auf: Die große Lösung respektive der Heilsbringer, der über den Niederungen der politischen Detailarbeit steht.
Fasse ich meine Sicht auf die Linke zusammen, so sollte sie hier und heute für individuelle und kollektive Anerkennung und Achtung, gesellschaftliche Zuversicht und politisch kritisch-konstruktives Handeln stehen. Und das mit dem Fokus auf soziale Gerechtigkeit und Erhaltung des menschlichen Lebensraumes. Darauf sollten sich – so meine ich – die „orthodoxe“ und „kulturelle“ Linke verständigen können.