von Mathias Iven
Ob analog oder digital – noch immer gilt das geschriebene Wort als ein Ausdruck unserer Gedankenwelt. Mehr als heute spielten in früheren Jahren Briefe eine wichtige Rolle, enthielten sie neben dem Austausch über Privates und Alltägliches doch oftmals auch Anstöße für weitergehende Diskussionen und Überlegungen. Hannah Arendt gehört zu den Personen, die ein umfangreiches Briefwerk hinterlassen haben. Einiges davon wurde bereits veröffentlicht, denken wir nur an die Korrespondenz mit Martin Heidegger oder Karl Jaspers, mit Gershom Scholem, Hermann Broch oder Uwe Johnson. Auch ihre Freundinnen Anne Weil, Helen Wolff, Charlotte Beradt, Rose Feitelson und Hilde Fränkel gehörten zu Arendts Adressatenkreis. Auf der Grundlage der überlieferten Briefe werden jetzt die Geschichten dieser Freundschaften erzählt. Zugleich unternehmen die Herausgeberinnen Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann mit ihrer mustergültig aufbereiteten und kommentierten Edition den Versuch, „diese Freundschaften in ihrer Bedeutung für jeweils beide Partnerinnen genauer zu bestimmen“.
Hannah Arendt und Anne Weil (geb. Mendelssohn), die zu den Namenlosen gehört, die „die Fundamente für den Aufbau des Hauses Europa legten“, lernten sich 1921 in Königsberg kennen. Ihre umfangreiche, aus den Jahren 1941 bis 1975 stammende Korrespondenz – bis auf zwei Stücke müssen Arendts Gegenbriefe leider als verschollen gelten – umfasst knapp ein Drittel des Bandes und enthält neben Reaktionen auf die von Arendt übersandten Artikel und Bücher Berichte über Weils Familie und ihre berufliche Tätigkeit.
Vermutlich Mitte der vierziger Jahre begann die Freundschaft mit Helen Wolff, der Frau des Verlegers Kurt Wolff. Der sich über zwei Jahrzehnte, bis zu Arendts Tod im Jahre 1975 erstreckende briefliche Austausch wurde zum Großteil von der Diskussion über gemeinsame Verlagsprojekte bestimmt. Dabei ging es sowohl um die Übertragung der Werke von Karl Jaspers ins Englische als auch um die Zusammenstellung einer ersten, für den amerikanischen Buchmarkt bestimmten Ausgabe mit Texten von Walter Benjamin. „Der wichtigste gemeinsame Nenner“, so heißt es in den einleitenden Bemerkungen zu diesem Briefwechsel, „aber dürften Erfahrungen gewesen sein, die jede der Freundinnen für sich im täglichen Leben in den USA machte.“ Exemplarisch dafür steht eine Bemerkung Arendts in einem Brief an Jaspers vom 23. Oktober 1965, wo sie feststellte: „Was für fremdartige Tiere […] wir doch hier im Grunde sind.“
Grundlage für die Zusammenarbeit mit der im Jahre 2001 verstorbenen Rose Feitelson – die Briefe datieren aus den Jahren 1952 bis 1963 – war deren von Arendt hoch geschätzte „literarische Begabung“. Gemeinsam mit dem Schriftsteller Alfred Kazin half sie bei der Endredaktion der 1951 publizierten „Origins of Totalitarianism“, dem ersten größeren Text, den Arendt auf Englisch verfasste. Später übernahm sie auch die sprachliche Überarbeitung des philosophischen Hauptwerks „The Human Condition“, in Deutschland 1960 in der Übersetzung von Arendt unter dem Titel „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ erschienen.
Zwischen 1955 bis 1974 korrespondierte die Journalistin Charlotte Beradt mit Hannah Arendt. Diese Beziehung charakterisieren die Herausgeberinnen als „eine Freundschaft eigener Art“, als eine Freundschaft „zwischen zwei mutigen Frauen, die von sich wussten, dass sie fähig waren, selbst unter schwierigen Bedingungen die Initiative zum Widerstand und zur Freiheit zu ergreifen.“ Obwohl man, wie an anderer Stelle betont wird, keineswegs sagen kann, dass Beradt der „Gedanke der Archivierung fremd gewesen ist“, so fällt doch auf, dass sie lediglich einen Brief von Hannah Arendt aufgehoben hat.
Die Freundschaft mit Hilde Fränkel war die einzige, „die ganz auf persönlicher Anziehungskraft beruhte“. Am 14. Dezember 1949 gestand ihr Arendt, „dass ich mit einer Frau nie den Grad von Intimität erreicht habe, der zwischen uns selbstverständlich ist“. Über Fränkels Biographie ist nur sehr wenig bekannt. Vermutlich trafen sie und Arendt sich Anfang der dreißiger Jahre an der Universität Frankfurt am Main. Bis auf wenige Stücke entstanden die vorhandenen Briefe während der Zeit von Arendts Europa-Aufenthalt 1949/50, als sie für eine jüdische Treuhandorganisation arbeitete, die sich mit der Rückgabe von den Nationalsozialisten geraubter Kulturgüter befasste. Viel ist darin die Rede vom Gesundheitszustand Fränkels, die 1949 an Lungenkrebs erkrankt war. Der Ton und die Offenheit berühren. Am 8. Januar 1950 schreibt Arendt: „wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen, wegen unvorstellbarer Verarmung, so als sei man dann in wichtigsten Dingen plötzlich zum Schweigen verdammt, nachdem man gerade erst Reden gelernt hat.“ Und am 2. März 1950, ein Vierteljahr vor ihrem Tod, kann Fränkel lesen: „Das Glück, Dich gefunden zu haben, wird dadurch, dass Du weggehst, noch intensiver, weil ja eben der Schmerz darin beschlossen ist. Dadurch wird es wie ein Symbol für menschliches Leben und für das, was wir halten können und eben doch nie haben können.“
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Seit ihrer Flucht aus Deutschland im Jahre 1933 beschäftigte sich Hannah Arendt mit der Dialektik von Revolutionen. Dabei ging es ihr vor allem um die Analyse des damit eng zusammenhängenden Begriffs der Freiheit, der zumeist nur als Freiheit von jeglichem Zwang verstanden wurde – und wird. Als Ergebnis ihrer Untersuchungen veröffentlichte Arendt 1963 die als „Doppelporträt“ der Amerikanischen und Französischen Revolution angelegte Studie „On Revolution“. Auch in der Folgezeit befasste sie sich mit diesem Thema und setzte ihre Überlegungen in einer Reihe von Essays und Vorträgen fort. Dazu zählte auch der jetzt auf Deutsch vorliegende, wahrscheinlich 1967 fertiggestellte und von den Herausgebern mit der Überschrift versehene Text „Die Freiheit, frei zu sein“.
Schon 1863 hatte der Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau in seinem Essay „Life Without Principle“ gefragt: „Was bedeutet es, frei geboren zu sein, aber nicht frei zu leben? Welchen Wert hat politische Freiheit, wenn sie nicht Mittel ist für moralische Freiheit? Ist es die Freiheit, Sklave zu sein, oder die Freiheit, frei zu sein, auf die wir stolz sind?“ Einhundert Jahre später antwortete Hannah Arendt: „Freiheiten im Sinne von Bürgerrechten sind das Ergebnis von Befreiung, aber sie sind keineswegs der tatsächliche Inhalt von Freiheit, deren Wesenskern der Zugang zum öffentlichen Bereich und die Beteiligung an den Regierungsgeschäften sind.“ Die „Freiheit, frei zu sein“, führte Arendt weiter aus, bedeutete in früheren Zeiten „nicht nur von Furcht, sondern auch von Not frei zu sein“. Denn nur „diejenigen, die die Freiheit von Not kennen, wissen die Freiheit von Furcht in ihrer vollen Bedeutung zu schätzen, und nur diejenigen, die von beidem frei sind, von Not wie von Furcht, sind in der Lage, eine Leidenschaft für die öffentliche Freiheit zu empfinden“.
Die aus einer Revolution hervorgehende Freiheit verschafft uns die unvergleichliche Erfahrung, frei zu sein für einen Neuanfang. Bereits in „On Revolution“ sprach Arendt in Anlehnung an Vergil und Augustin von der „Gebürtlichkeit menschlicher Existenz“. Deren politische Relevanz wird jedoch nur verständlich, wenn wir uns von den alten Vorstellungen verabschieden, „denen zufolge der Terror und die Gewalt allein imstand seien, etwas Neues zu schaffen“. In „Die Freiheit, frei zu sein“ legte Arendt dar, dass „diese geheimnisvolle menschliche Gabe, die Fähigkeit, etwas Neues anzufangen“, ganz augenscheinlich etwas damit zu tun hat, „dass jeder von uns durch die Geburt als Neuankömmling in die Welt trat. Mit anderen Worten: Wir können etwas beginnen, weil wir Anfänge und damit Anfänger sind. Insofern uns die Fähigkeit zum Handeln und Sprechen – und Sprechen ist nichts weiter als eine andere Form des Handelns – zu politischen Wesen macht und da Agieren seit jeher bedeutet, etwas in Bewegung zu setzen, das zuvor nicht da war, ist Geburt, menschliche Gebürtlichkeit als Entsprechung zur Sterblichkeit des Menschen, die ontologische conditio sine qua non aller Politik.“
Ein Gedankengang, der, wie Thomas Meyer in seinem Nachwort schreibt, „zum Unerhörtesten [gehört], was die moderne Geschichte des Denkens zu bieten hat“. Hannah Arendt liefert mit ihrem Essay, so schreibt er weiter, „ein zeitlos anmutendes Plädoyer für aktive Wachsamkeit“, „die sich sowohl der Möglichkeiten als auch der Gefährdungen von Revolutionsversprechen und Freiheitsutopien bewusst ist“.
Hannah Arendt: „Wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen.“ Briefwechsel mit den Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff, Piper Verlag, München 2017, 678 Seiten, 38,00 Euro.
Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein, dtv, München 2018, 64 Seiten, 8,00 Euro.
Schlagwörter: Anne Weil, Charlotte Beradt, Freiheit, Hannah Arendt, Helen Wolff, Hilde Fränkel, Mathias Iven, Rose Feitelson