21. Jahrgang | Nummer 2 | 15. Januar 2018

Der Fall Tessnow

von Dieter Naumann und Rainer Leonhardt*

Im Juli 1901 erschütterte ein Kriminalfall den rügenschen Badeort Göhren. Betroffen sind zwei Söhne des Fuhrunternehmers W. Grawer aus der Schmiedestraße am westlichen Rande Göhrens.
Am 1. Juli 1901 waren die Grawerts mit ihren vier Kindern zum Holzaufladen im nahen Wald, wobei die beiden größeren Söhne, der fünfeinhalbjährige Peter und der siebeneinhalb Jahre alte Hermann, zum Beerensammeln geschickt worden waren. Als die Kinder nicht zurückkommen, machen sich die Eltern auf die Suche, zunächst vergeblich, bis die verstümmelten Leichen der beiden Kinder nahe dem Fahrweg nach Baabe in einem Dickicht gefunden werden: Köpfe zertrümmert und abgetrennt, Arme und Beine amputiert, die Körper aufgeschnitten … In einem Gebüsch wird ein blutbefleckter Kieselstein gefunden.
Noch am Nachmittag des 2. Juli meldet sich eine Obsthändlerin, die Grawerts Söhne gesehen hatte, als sie am späten Nachmittag des Vortags durch den Tischlergesellen Tessnow angesprochen wurden. Auch ein Straßenarbeiter meldet sich, er hatte Tessnow am Abend des gleichen Tages gesehen und bemerkt, dass dessen Anzug voller bräunlicher Flecken war.
Ludwig Tessnow wurde im Februar 1872 als unehelicher Sohn seiner an Epilepsie leidenden, 1843 geborenen Mutter und (wahrscheinlich) des trunksüchtigen Julius Tebesius in Stolzenhagen bei Stettin geboren. Ein älterer Stiefbruder war wegen Totschlags zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden, er nahm sich in der Haft das Leben. Der leibliche Vater wurde wegen Messerstecherei ebenfalls strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Die Mutter trennte sich zunächst von ihrem Ehemann, wenig später auch von Ludwigs leiblichem Vater. Sie heiratete Friedrich Ludwig Tessnow, der den Sohn durch Heirat  „legitimierte“, aber ebenfalls trank und beide schlecht behandelte, weshalb sich die Mutter auch von ihm trennte.
Ludwig Tessnow war wegen Betteln, Diebstahl und Einbruch vorbestraft. Mitte Juni hatte er bei Tischlermeister Schmidt in Baabe Arbeit und Logis bekommen. Einerseits als fleißiger und geschickter Arbeiter, stiller und höflicher Hausgenosse geschildert, war er andererseits durch Wesenswandel und starken Alkoholkonsum am Vorabend und nach der Tat aufgefallen.
Nach intensiver Suche wurde Tessnow am Ostseestrand beim Versuch, seine Kleidung zu reinigen, festgenommen. Bei der Hausdurchsuchung wurden an seiner Bekleidung kaum angetrocknete Flecken gefunden, die er als Tischlerbeize erklärte, mit der er täglich zu tun habe. Der Untersuchungsrichter, Justizrat Johann Schmidt aus Greifswald, erinnerte sich an einen Fall aus Lechtingen bei Osnabrück, zu dem laut Greifswalder Zeitung vom 16. Dezember 1906 der Osnabrücker Kriminalkommissar Ra[t]sch den entscheidenden Hinweis gegeben hatte: Am Morgen des 9. September 1898 hatten sich die siebeneinhalbjährigen Mädchen Elise Heidemann und Elise Langemeyer zur Schule begeben, waren aber nicht angekommen. Ihre entkleideten, zerstückelten und ausgeweideten Körper wurden mittags in einem Wald nahe dem Schulweg gefunden. Die Polizei nahm einen sich in der Gegend aufhaltenden Tischlergesellen fest und konnte einen Knopf, den man am Tatort fand, seinem Anzug zuordnen. Da er die Tat hartnäckig bestritt und erklärte, die auffälligen Flecken an seiner Kleidung seien Holzbewize, wurde er letztlich mangels Beweisen aus der Untersuchungshaft entlassen. Auf Nachfrage aus Greifswald wurde Ludwig Tessnow als dieser Tatverdächtige benannt.
Im März 1901 war bei Pribbernow in Westpommern ein erwachsenes Mädchen, Berta Lau, überfallen worden, das sich jedoch befreien konnte. Tessnow, der in der Nähe eine seiner wechselnden Arbeitsstellen hatte, war auch in diesem Fall festgenommen worden; erneut wurden Wesensveränderungen und übermäßiger Alkoholkonsum im Tatzeitraum geschildert.
Die Gendarmerie auf Rügen erfuhr zwischenzeitlich, dass in der Nacht vom 11. zum 12. Juli 1901 auf einer Weide bei Göhren einige Schafe grausam getötet, ihre Kadaver zerschnitten und auf der Weide verstreut wurden. Der Besitzer der Schafe hatte den mutmaßlichen Täter noch flüchten sehen. Eine Gegenüberstellung mit Tessnow verläuft positiv. Später wurde bekannt, dass im Juni 1901 bei Sagard auf Rügen Schafe auf ähnliche Weise getötet und verstümmelt worden waren. Zu dieser Zeit hatte Tessnow bei dem Sagarder Meister Steffenhagen Arbeit gefunden.
Die öffentliche Meinung, vertreten durch die Presse, ist geprägt durch eine Vorverurteilung des Tatverdächtigen. Die Greifswalder Zeitung beschreibt am 7. Juli 1901 „die Bestie in Menschengestalt” – „mit tiefliegenden Augen und einer Galgen-Physiognomie“ –, es werde „Lustmord“ vermutet. Obwohl Tessnow kein Geständnis abgelegt habe, seien die Verdachtsmomente so erheblich, dass „jeder Zweifel an seiner Schuld hinfällig erscheint“, teilt das Blatt schon am 5. Juli „aus zuverlässiger Quelle“ mit. Die Münchner Allgemeine Zeitung titelt im Dezember 1906 ihre Berichte über das spätere Wiederaufnahmeverfahren „Ein sadistischer Mörder“ und schreibt, sein Aussehen wäre nicht unsympathisch, „wenn nicht die tief in den Höhlen liegenden Augen seinem Gesicht einen tückischen lauernden Ausdruck geben würden“, die Greifswalder Zeitung berichtet über das Wiederaufnahmeverfahren unter dem Titel „Mörder Teßnow“. In der Bevölkerung wächst das Unverständnis darüber, dass ein so brutaler Mörder nicht längst verurteilt ist. Zugleich bemüht sich die regionale Presse, etwaige Bedenken von Fremden, die rügenschen Bäder aufzusuchen, zu zerstreuen. Der Täter sei kein Einheimischer und nach der Mordtat sofort ergriffen und „unschädlich“ gemacht worden. Die Bewohner würden jetzt mit doppelter Sorgfalt und Wachsamkeit für die Sicherheit der Badegäste sorgen.
Die Beweislage ist schwierig, weil es bis 1901 nicht möglich war, Tier- von Menschenblut zu unterscheiden und Blut einer Gruppe von Menschen oder einer einzelnen Person zuzuordnen. Der Greifswalder Staatsanwalt Hermann Hübschmann (1852–1926) erhält jedoch Kenntnis von den Untersuchungen Paul Uhlenhuths (1870–1957) am Hygiene-Institut der Universität Greifswald. Ihm war es in Blindversuchen gelungen, unter 19 verschiedenen Blutarten Menschen- und Rinderblut herauszufinden. Hübschmann bewegt den Untersuchungsrichter zur Einbeziehung Uhlenhuths, der daraufhin Pakete mit den Kleidungsstücken Tessnows erhält. Recht schnell ist klar, dass es sich bei den Flecken an der Kleidung um Blut handelt. Das im August 1901 vorgelegte Gutachten verweist auf Menschenblut an insgesamt 22 Stellen von Tessnows Kleidung, Schafblut kann Uhlenhuth an neun Stellen nachweisen. Das Gutachten bildet die entscheidende Beweisgrundlage im Mordprozess gegen Ludwig Tessnow im Jahre 1902.
Der Fall sollte aber nicht nur durch das erste wissenschaftliche Gutachten zur Blutartenbestimmung in die Kriminalgeschichte eingehen, sondern auch wegen des Streits zwischen Juristen und medizinischen Sachverständigen bei der Beurteilung der möglichen Schuldunfähigkeit des Täters: Tessnow wird am 4. Juli 1902 am Greifswalder Schwurgericht unter Vorsitz von Richter Karl Buddee (1836–1910) zweimal zum Tode und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl vier vom Gericht bestellte „irrenärztliche Sachverständige“ übereinstimmend festgestellt hatten, dass Tessnow bei der Tat „geisteskrank“ gewesen sei. Der öffentliche Druck und der Druck durch den Staatsanwalt, der forderte, die Geschworenen müssten Tessnow schuldig sprechen, „damit diese Bestie in Menschengestalt aus der menschlichen Gesellschaft entfernt wird“, dürften eine erhebliche Rolle bei der Urteilsfindung gespielt haben. Einer der Sachverständigen beklagt laut Greifswalder Zeitung in der späteren Wiederaufnahmeverhandlung, er sei in einer Weise angegriffen worden, wie es ihm in 30-jähriger Gerichtspraxis noch nicht vorgekommen sei.
Die im Oktober 1903 vorgesehene Hinrichtung muss aufgeschoben werden, weil Tessnow nach Angaben seines Anwalts Richard Frantz im Gefängnis „einen Anfall formaler Geistesstörung gehabt habe, der darauf schließen lasse, daß Tessnow überhaupt in Geisteskrankheit verfallen sei“. Die im November 1903 von der Verteidigung geforderte Wiederaufnahme des Verfahrens wird zunächst vom Greifswalder Landesgericht abgelehnt, das Oberlandesgericht Stettin ordnet jedoch im Dezember 1903 die Wiederaufnahme an, das Verfahren findet im Dezember 1906 statt. Gutachter bestätigen erneut, dass Tessnow bei seinen Taten unzurechnungsfähig gehandelt habe. Dennoch wird das Urteil von 1902 durch die zwölf Geschworenen, die sämtlich medizinische Laien waren und sich offenkundig vorrangig durch ihr verständliches Entsetzen über die ungeheuerlichen Taten und nicht von objektiver Bewertung leiten lassen, bestätigt. Schon 1907 bewerten zahlreiche Psychiater und Juristen die Entscheidung der Geschworenen als Fehlurteil.
Lange Zeit wurde angenommen, Tessnow sei im Greifswalder Gerichtsgefängnis hingerichtet worden. Tatsächlich muss es wohl um 1907 zu einer stillschweigenden Begnadigung gekommen sein. Zuletzt befand sich Tessnow im „Festen Haus“ der 1912 eröffneten Provinzial-Heilanstalt Stralsund. Ende 1939 wurde er im Rahmen der von Gauleiter Schwede-Coburg veranlassten Krankenmorde, die der NS-„Euthanasie“-Aktion T4 (benannt nach Räumlichkeiten in der Berliner Tiergartenstraße 4) vorausgingen, erschossen.
Uhlenhuth war 1933 an der Universität Freiburg an der Entlassung jüdischer und politisch anders denkender Kollegen beteiligt, 1944 soll er Immunisierungsversuche an farbigen Kriegsgefangenen beantragt haben. Eine Straße seines Namens in Freiburg wurde deshalb 2014 umbenannt.

* – Kriminalistik-Dozent Dr. Rainer Leonhardt, 2015 verstorbener ehemaliger Kollege und Freund, hatte erste Recherchen zum Fall angestellt.