21. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2018

Charlotte

von Renate Hoffmann

Albertine Ernestine Charlotte von Schardt (1742–1827) heiratet im Jahr 1764 den herzoglichen Stallmeister am Hofe Sachsen-Weimar-Eisenach Gottlob Ernst Josias Friedrich von Stein. In den ersten zehn Ehejahren werden sieben Kinder geboren. Bis zu ihrer Verbindung mit Josias versah sie das Amt einer Hofdame der Herzogin Anna Amalia. – Im November 1775 begegnen sich in Weimar Charlotte von Stein und Johann Wolfgang von Goethe. Er besucht sie wenig später auf dem Gut ihres Mannes, dem Schloss Kochberg in der Nähe von Rudolstadt. Dort hinterlässt er auf dem Stein’schen Schreibtisch eine, noch heute sichtbare Notiz (unter Glas!) seiner Anwesenheit: den 6. Dezember 1775. Bereits im Februar 1776 schreibt Goethe an Johanna Fahlmer, eine Freundin seiner Schwester Cornelia: „Eine herrliche Seele ist die Frau von Stein, an die ich so was man sagen mögte geheftet und genistelt bin.“ Die Genistelung hielt, wie man weiß, fast elf Jahre an.
Goethes „Lotte“ gerät in den Kreis aufmerksamer Beobachtung. Der in Pyrmont als Kurarzt tätige Johann Georg Zimmermann, den sie beim Aufsuchen der Heilquellen im Badeort kennen lernt, erstellt gar ein Psychogramm von ihr. Sie habe überaus große schwarze Augen von der höchsten Schönheit, befindet er. Ihre Stimme sei sanft und bedrückt. Ernst, Sanftmut, Gefälligkeit, leidende Tugend und feine, tief gegründete Empfindsamkeit sähe man ihr an. Sie wäre fromm mit einem rührend schwärmerischen Schwung der Seele, habe einen leichten Zephirgang und stilles Mondlicht fülle ihr Herz mit Gottesruhe.
Friedrich Schiller trifft Charlotte auf einer „großen adligen Gesellschaft“. Er fühlt sich nicht wohl in dieser Umgebung und langweilt sich. Aber: „Die beste unter allen war Frau von Stein, eine wahrhaftig eigene interessante Person, und von der ich begreife, daß Goethe sich so ganz an sie attachiert hat. Schön kann sie nie gewesen sein, aber ihr Gesicht hat einen sanften Ernst und eine ganz eigene Offenheit. Ein gesunder Verstand, Gefühl und Wahrheit liegen in ihrem Wesen.“
(Lieber Friedrich, Du warst auch nicht eben der Schönste, mit roten Haaren und Augenbrauen, Sommersprossen, oft geröteten Augenlidern, und Deinem „Geschwäbel“ beim Vorlesen)
Wer wohl zutreffender Auskunft über Frau von Stein geben kann, ist Carl Ludwig von Knebel, Lyriker, Übersetzer, „Urfreund“ Goethes und mit Charlotte lebenslang freundschaftlich verbunden. „Sie ist ohne Prätension und Ziererei, gerad, natürlich, frei, nicht zu schwer und nicht zu leicht, ohne Enthusiasmus und doch mit geistiger Wärme, nimmt an allem Vernünftigen Anteil und an allem Menschlichen, ist wohl unterrichtet und hat einen feinen Takt.“
Neben all den sanften Tönen samt stillem Mondlicht und „tief gegründeter Empfindsamkeit“, ist „Lotte“ eine real und praktisch denkende Frau. Und sie besitzt anmutigen Witz. In einem Brief an ihre Schwägerin Sophie von Schardt bedankt sie sich für ein Geschenk und schreibt: „ […] Wie ich meine Strümpfe will anziehen, fallen ein Paar allerliebste Strumpfbänder heraus. Ich erkannte gleich an ihrem lieblichen Geist, daß sie von Dir wären […] Gern beging’ ich einen Skandal und wies’ heute meine Waden, aber ich muß mich damit begnügen, meinen verborgenen Wert an mir zu haben.“
Genug des Scherzens. Die Kochbergische Ökonomie ist im Blick zu behalten, zu planen, zu kontrollieren. Der Gutsherrin von Stein gibt ihr Patenkind Charlotte von Lengefeld, die „Kleine Dezenz“ (so genannt ihrer Zurückhaltung wegen) und später Friedrich Schillers Angetraute, einen wichtigen Hinweis. Umgehend wird er aufgegriffen. Charlotte schreibt an die „Kleine Dezenz“ aus Weimar am 30. Januar 1786: „Gestern, liebes Lottchen, erhielt ich Ihren Brief und schäme mich sehr auf Ihr Andenken zu meinem Geburtstag nicht eine Silbe geantwortet zu haben […] Ich habe manches Projekt gemacht, wie Sie über Kochberg (die Lengefelds wohnten in Rudolstadt, nahe bei Kochberg – d.A.) uns hier besuchen könnten, aber leider kommen nur immer Holzfuhren und keine anständige Equipage für mein Lottchen daher. Nun etwas Wirtschaftliches. Vergessen sie nicht, mir das Kalb von der Kuh, die so viel Milch gibt, zu verschaffen, wenn es ein Kuhkalb ist […] und wenn Sie noch mehrere solcher berühmten Kühe wissen, so handeln Sie mir ja alle Kälber davon ein. Sie sollen Ihre Freude daran haben, wie schön ich sie will erziehen lassen.“
Charlotte im Kuhstall? Ich zweifle! Doch der Beweis lässt sich erbringen. Frau von Stein teilt andernorts mit: „ […] Um die Wirtschaft (auf Gut Kochberg – d.A.) kümmere ich mich auch, denn ich studiere die ,Hausmutter’ und gehe auch manchmal in Kuhstall und kriege eine vortreffliche Einsicht, wie ich betrogen werde, aber ohne abhelfen zu können.“
Es ist die Frau mit dem „rührend schwärmerischen Schwung der Seele“ wie auch der Sorge um eine einträgliche Milchwirtschaft – und mit allem was dazwischen liegt –, der Johann Wolfgang von Goethe gesteht: „Meine Seele ist fest an die Deine angewachsen, ich mag keine Worte machen, Du weißt, daß ich von Dir unzertrennlich bin und dass weder Hohes noch Tiefes mich zu scheiden vermag.“