21. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2018

Arbeit und Arbeitslosigkeit

von Franz Schandl, Wien

Was passiert mit den Leuten, wenn sie in die Arbeit gehen? Nun, durch die pauschale Abgabe ihrer Arbeitskraft auf eine bestimmte Dauer entledigen sich diese Subjekte ihres bürgerlichen Status. Ihre Rechte werden in dieser Zeit tatsächlich sistiert, sie verlieren sie zwar nicht wie Sklaven oder Leibeigene, aber sie können sie in dieser Phase nicht ausüben, wollen sie ihres Status nicht verlustig gehen. Auf dem Markt ist der Arbeiter zwar ein Bürger, aber in der Arbeit ist der Arbeiter kein Bürger. Während Lohnabhängige ihren Job erledigen, stehen sie unter Kommando und Kuratel. Sie gehören sich nicht, sie gehorchen. Das gilt für die Fabrikhalle ebenso wie für das Büro. Es ist also nicht Übereinkunft und Verbindlichkeit, die dieses Verhältnis regelt, sondern Zwang und Unterwerfung. Arbeit ist Zwangsarbeit zwar nicht formell, aber materiell auf jeden Fall.
In der Arbeit ist der Mensch außer sich, ist Teil eines Betriebs, als dessen Glied er installiert ist. Selbstbegegnung tritt als Störung auf. Als funktionale Dissonanz. Der Arbeiter wird hier als Charaktermaske gesetzt, nicht als Individuum.
Wenn die Leute in die Arbeit gehen, gehen sie aus ihrem Leben. Schon der junge Marx betonte, „dass die Arbeit dem Arbeiter äußerlich ist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, dass er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. Ihre Fremdheit tritt darin rein hervor, dass, sobald kein physischer oder sonstiger Zwang existiert, die Arbeit als eine Pest geflohen wird. Die äußerliche Arbeit, die Arbeit, in welcher der Mensch sich entäußert, ist eine Arbeit der Selbstaufopferung, der Kasteiung.“ (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte)
Auf jeden Fall meint Lohnarbeit Arbeitszwang. Lohn ist notwendig, um an Lebensmittel zu kommen. Wer Lohn benötigt, ist gezwungen, sich am Markt zu verdingen und in den Fabriken zu schuften. Dieser Druck zeichnet das Proletariat aus, er ist sein Stachel. Arbeit kann daher als ständiger Zwang zur Verdingung gelten.
Arbeitslosigkeit ist historisch ein relativ junges Phänomen. In allen bekannten Gesellschaften gab es verelendete Gruppen und Personen, aber nicht in allen Gesellschaften gab es Arbeitslose. Sklaven und Leibeigene waren weder Arbeiter noch Arbeitslose. Arbeitslos, das sagt schon der Begriff, ist eng mit der Kategorie Arbeit verbunden, wie sie unselbständig Erwerbstätige auszuüben haben. Arbeitslosigkeit ist somit erst mit Lohnarbeit und Kapital entstanden. Erst wenn es freie Arbeiter gibt, gibt es auch freigesetzte Arbeitslose. Die betroffenen Personen können als potenzielle Arbeitskraftverkäufer bezeichnet werden, die ihren Gebrauchswert nicht verkaufen können, jedoch über kein anderes Produktionsmittel als ihre Arbeitskraft verfügen. In den obligaten Statistiken scheinen sie allerdings nur dann auf, wenn sie Anrecht auf Arbeitslosengeld besitzen.
Der Arbeitslose wird durch den Arbeiter definiert. Aber ein Arbeiter, der seine Arbeitskraft nicht verkaufen kann, ist kein Arbeiter. Aber was ist er dann? Nun, er ist etwas im Konjunktiv. Er ist etwas, weil er etwas nicht ist, was er sein sollte. Arbeitslosigkeit ist Ausdruck der Misere der Arbeit. Arbeitslosigkeit gehört zur Arbeit, die es nun für die Arbeitskraft nicht mehr gibt. Die Unverdinglichkeit des Sich-zu-Verdingenden wird dabei offensichtlich. Und natürlich ist sie ein großes Problem, wenn das Verdingen höchste Pflicht ist. – Allerdings nur dann!
Karl Marx schreibt: „Wachstum in der Anzahl der Fabrikarbeiter ist also bedingt durch proportionell viel raschres Wachstum des in den Fabriken angelegten Gesamtkapitals. Dieser Prozess vollzieht sich aber nur innerhalb der Ebb- und Flutperioden des industriellen Zyklus. Er wird zudem stets unterbrochen durch den technischen Fortschritt, der Arbeiter bald virtuell ersetzt, bald faktisch verdrängt. Dieser qualitative Wechsel im Maschinenbetrieb entfernt beständig Arbeiter aus der Fabrik oder verschließt ihr Tor dem neuen Rekrutenstrom, während die bloß quantitative Ausdehnung der Fabriken neben den Herausgeworfnen frische Kontingente verschlingt. Die Arbeiter werden so fortwährend repelliert und attrahiert, hin- und hergeschleudert, und dies bei beständigem Wechsel in Geschlecht, Alter und Geschick der Angeworbnen.“ (Marx, Das Kapital, Band I.)
Von struktureller Arbeitslosigkeit sprechen wir dann, wenn die Repulsion durch die Attraktion am Arbeitsmarkt nicht mehr in absehbarer Frist ausgeglichen werden kann. Strukturelle Arbeitslosigkeit bedingt auch (anders als die friktionale, die konjunkturelle oder die saisonelle) den sukzessiven Zerfall des Klassenzusammenhangs und der geübten Solidarität, sei diese nun Folge von Wille, Einsicht oder auch Zwang. Strukturelle Arbeitslosigkeit zersetzt so auch die substanzielle Kraft jeder aktiven Arbeiterschaft. Strukturelle Arbeitslosigkeit meint, dass das Angebot an Arbeitskräften stets und anhaltend größer als die Nachfrage ist. Arbeitslosigkeit ist von einem Randphänomen zu einem Zentralproblem geworden, also von einem akuten Affekt der Wirtschaft zu einem chronischen Effekt der Ökonomie. Arbeitslosigkeit ist keine konjunkturelle, sondern eine strukturelle Größe.
Arbeit wie Arbeitslosigkeit definieren sich durch die Lohnarbeit. Einmal ist sie vorhanden und eingelöst, das andere Mal ist sie abwesend, aber doch bestimmend. Wenn man Arbeit und Arbeitslosigkeit somit nicht als sich wechselseitig ausschließendes Gegensatzpaar hypostatisiert, dann gilt der Tendenz nach zweifellos folgendes: Arbeitslosigkeit konkurrenziert und atomisiert, während Arbeit konkurrenziert und solidarisiert. Arbeit ist nämlich auf Kooperation und Kommunikation angewiesen. Arbeit konstituiert nicht nur konkurrenzistische Subjekte, sondern fördert auch die Anteilnahme am Anderen: Man hilft sich, erkundigt sich, unternimmt auch außerhalb der Arbeit gemeinsam etwas, lernt die anderen nicht nur als Arbeiter, sondern auch als Menschen mit vielfältigen Bedürfnissen kennen. Arbeitslosigkeit hingegen birgt dieses Potenzial kaum, man ist nicht aktiv, sondern erleidet etwas. Arbeitslosigkeit beherbergt so meist eine seltsame Art von Lethargie. Diese Lethargie sollte nicht mit Gelassenheit verwechselt werden.
Arbeitslos bedeutet also nicht, dass man ganz profan nichts zu tun hätte, sondern dass man keiner bezahlten Erwerbsarbeit nachgehen kann, obwohl man gerade diese benötigt, um den Lebensunterhalt zu sichern. Der Arbeiter, der nicht mehr Arbeiter ist, will Arbeiter sein, weil er Arbeiter sein muss. Der Arbeitslose ist der eben nicht verwertbare Arbeiter, der seines gesellschaftlichen Marktstatus verlustig geht. Da er kein Verkäufer mehr ist, hört er auch auf, Käufer zu sein.
Arbeitslos zu sein, heißt, dass sich ein Warentausch (Arbeitskraft gegen Lohn) nicht oder nicht mehr vollziehen kann. Das Kaufen und das Verkaufen einer Ware hat aufgehört. Die Ware Arbeitskraft verliert somit ihren Warenstatus. Aus der Potenz ist Impotenz geworden, vornehmlich die Impotenz ihrer gesellschaftlichen Träger, der nunmehrigen Nicht-Arbeiter. Gemeinhin wird sodann ein Status des Käufers ohne Verkäufer zu sein durch Alimentierung (Arbeitslosenbezug, Sozialhilfe, sonstige Unterstützungen) wieder notdürftig hergestellt. Arbeitslosigkeit ist also kein Mangel an Tätigkeit, sondern ein gesellschaftlich bedingter Mangel an Kaufkraft, sprich Geld. Man gehört nicht so recht dazu, weil man seine Pflicht als Geldsubjekt, das heißt seine Pflicht als Käufer von Arbeitsleistungen und Verkäufer von Arbeitskraft nicht erfüllen kann. Der Arbeitslose ist der entwertete Arbeiter.

Mit dem Thema ArbeitsLos beschäftigt sich die Nr. 71/2017 der Wiener Streifzüge, Magazinierte Transformationslust. Auch der Beitrag von Franz Schandl ist dort in einer ausführlicheren Fassung zu lesen.