von Frank Elbe
Ein neues Heft zur Sicherheitspolitik liegt vor: SIRIUS – Zeitschrift für strategische Analysen. Der Autor las die Beiträge „Die neue Zeitenwende in den internationalen Beziehungen: Konsequenzen für deutsche und europäische Politik“ von Joachim Krause und „Grundzüge einer neuen NATO Strategie“ von Karl-Heinz Kamp.
Es ergibt Sinn, von Zeit zu Zeit politische und strategische Konzepte zu überprüfen und aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Das sollte gewissenhaft und redlich erfolgen und vor allem ohne politische Motivation. Das scheint den Verfassern Krause und Kamp nicht recht gelungen zu sein.
Es darf in Erinnerung gerufen werden, dass die NATO ein politisches Bündnis ist. Nach ihrem eigenen Selbstverständnis ist es „das höchste Ziel der Allianz, eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung in Europa zu schaffen.“[1] Jede Fortentwicklung strategischer Überlegungen muss diesem Ziel Rechnung tragen. Man kann eine solche Zielsetzung nicht einfach unterschlagen oder so tun, als sei sie aufgehoben bzw. schon deshalb nicht mehr verbindlich, weil die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts mit Russland geschaffene europäische Friedensordnung nicht mehr existiere, da sie „Opfer der russischen Aggression in Osteuropa“ wurde.[2] So etwas sagt man, wenn man den Bruch der Beziehungen zu Russland rechtfertigen will – auch um den Preis des Bruchs eigener Prinzipien und der Missachtung eingegangener Verpflichtungen.
Es entsteht der Eindruck, dass die Autoren sich aus der Schaffung einer europäischen Friedensordnung herausschleichen wollen. Sie rütteln an der tragenden Säule des politischen Bündnisses. Eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung ist und bleibt seine Kernaufgabe. Verteidigungsanstrengungen der NATO verlieren gegenüber der Gesellschaft ihre Legitimation, wenn sich die Verpflichtung zur Förderung des friedlichen Zusammenlebens der Völker und der Schaffung einer Friedensordnung – selbst stillschweigend – auflöst. In Deutschland wäre eine solche Entwicklung nach Art. 26 des Grundgesetzes verfassungswidrig.
Der nach wie vor gültige Harmel-Bericht von 1967 sieht zwei Ansätze für die Umsetzung der politischen Zielsetzungen des Bündnisses vor, nämlich ausreichende militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung. Ferner sind alle NATO-Mitgliedstaaten aufgerufen, dauerhafte Beziehungen zu Russland herzustellen. Zwischen der ausreichenden militärischen Sicherheit und der Politik der Entspannung steht ein „und“, kein „oder“. Das heißt, dass die Verpflichtung zu einer Politik der Entspannung nicht so ohne weiteres ausgesetzt werden kann, noch nicht einmal durch eine Krise.
Man gewinnt den Eindruck, dass die Autoren eine Suspension weiterer Beziehungen zu Russland anstreben, zumindest ihren Fortbestand auf einen Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben wollen. Anders kann man die Feststellungen, die Krise in Osteuropa sei „kein vorübergehendes politisches Schlechtwettergebiet“, sondern stelle einen grundlegenden sicherheitspolitischen Klimawandel dar“, nicht verstehen[3]. Krause geht davon aus, dass „die strategische Konkurrenz Russlands … eine Herausforderung von dauerhaftem Charakter“ sei.[4] Ein solcher Rückzug aus der politischen Verpflichtung des Harmel-Berichts ist nicht bündniskonform. Unabhängig davon, ob der Westen Russland ausgrenzen würde oder nicht, ändert sich nichts an sicherheitspolitischen Parametern im Verhältnis der NATO zu Russland. Unverändert gilt: Es wird für die USA und Europa keine Sicherheit gegen, sondern nur mit Russland geben.
Diese Sicherheit wird im Dialog mit Russland leichter zu erreichen sein, als durch seine Ausgrenzung. Dies einzusehen ist ein Gebot der Wahrung eigener Sicherheitsinteressen. Ebenso ist der Respekt vor berechtigten russischen Sicherheitsinteressen und Empfindlichkeiten geboten, auf den wir uns in der Pariser Charta verständigt haben. Umgekehrt können wir erwarten, dass Russland die aus der europäischen Geschichte stammenden Sorgen und Ängste seiner westlichen Partner ernst nimmt und mit dazu beiträgt, sie abzubauen.
Wir werden nicht in eine neue Phase eines Kalten Krieges eintreten. Und noch weniger muss eine heiße militärische Auseinandersetzung befürchtet werden. Die Krise hat jedoch ein Menetekel an die Wand gezeichnet: Die Aufbauarbeit von fast zwanzig Jahren Kooperation mit Russland droht, verschüttet zu werden. An einer solchen Entwicklung kann niemandem gelegen sein. Ausgangspunkt aller Überlegungen muss sein, an die Erfahrungen einer erfolgreichen Zusammenarbeit mit Russland anzuknüpfen und sie auszubauen. Es geht um die strategische Gestaltung langfristiger, nachhaltiger Beziehungen zu Russland. Eine von Vernunft geleitete Politik verzichtet auf unangemessene Härte und die Verweigerung von Dialog. Das stellt die Festigkeit der eigenen Position überhaupt nicht in Frage. Eine Strategie, die darauf zielt, Russland auszugrenzen, wird keine Rendite tragen. Im Gegenteil, sie würde sehr bald den eigenen Interessen des Westens schaden. Niemand kann Russland, eine Großmacht mit enormen wirtschaftlichen Ressourcen, ohne Nachteile für sich selbst isolieren.
Als Jurist bin ich es gewohnt, einen Sachverhalt zu prüfen und ihn unter eine Norm zu subsumieren, bevor ich eine bewertende Feststellung treffe. Kamp und Krause stellen Behauptungen in den Raum, die auf Annahmen beruhen. Die Richtigkeit der Annahmen wird unterstellt, auf die Beweisführung verzichtet. Der Leser muss einfach glauben, dass „Russland spätestens seit der bunten Revolution in der Ukraine vom Jahreswechsel 2013/2014 die strategische Konfrontation mit dem Westen sucht“[5] oder dass es absehbar keine Ansatzpunkte in der russischen Politik gebe, die man aufgreifen könne[6]. Das ist ein fahrlässiger Umgang mit Themen, die über Krieg und Frieden entscheiden.
Beide Beiträge prägt eine nicht nachvollziehbare Sucht nach einem politischen Feind. So bezeichnen die Autoren es als „ein erhebliches Defizit“, dass Russland im Weißbuch 2016 an keiner Stelle „als strategischer Gegner oder Konkurrent“[7] erwähnt werde. Der damalige polnische Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski (im Amt 2006–2007) scheiterte schon vor über 10 Jahren, als er die NATO auf das Feindbild Russland festlegen wollte. Selbst wenn man anfällig für Carl Schmitt und sein Feind-Freund-Verhältnis in der Politik sein könnte, wäre ein solches Denken im nuklearen Zeitalter unsinnig, weil Nuklearwaffen „strukturbildend“ sind und – bei Strafe des Untergangs – Mäßigung erzwingen, wie es der Historiker und Journalist Michael Stürmer immer wieder erläutert.
Wer hat nun die Verantwortung für die gegenwärtige Krise? Aus der Sicht beider Autoren wohl die russische Führung. Das belegt entweder schlichtes Denken oder verwerfliche politische Absichten. Bereits der Historiker Heinrich August Winkler zog eine unzulässige Schlussfolgerung: „Putin hat mit der Annexion der Krim im März 2014 und seinem offensiven Vorgehen in der Ostukraine de facto die Unterschrift Gorbatschows unter die Charta von Paris annulliert.“[8] Völlig falsch. Es ist die Sicht derer, die den Bruch mit Russland suchen. Sie versteinern den Konflikt, wenn sie aus ihm eine reine Rechtsfrage machen.
In den USA sehen schon seit langem prominente Experten die Verantwortung für das Entstehen des Konflikts bei der eigenen Administration. Sie kritisieren die US-Regierung, fälschlicherweise angenommen zu haben, dass „die Logik der Realpolitik im 21. Jahrhundert nicht mehr erheblich sei“.[9] Der russische Präsident Putin habe schon früh gewarnt, dass mit der Integration der Ukraine in die westliche Einflusssphäre eine rote Linie überschritten werden würde. In der Tat hatte US-Botschafter William Burns im Februar 2008 nach Washington über die Befürchtungen von Außenminister Lawrow berichtet, dass die Frage der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine das Land möglicherweise spalten würde, was zum Ausbruch von Gewalt oder sogar zu einem Bürgerkrieg führen könnte, der Russland u. U. zwingen würde, eine Entscheidung über eine Intervention zu treffen.[10]
Wäre es schlimm gewesen, die russische Regierung mit ihren Sorgen vor einer Umzingelungspolitik ernst zu nehmen? Würde Putin die Krim übernommen haben, wenn das US State Department den Putsch in der Ukraine nicht organisiert hätte? Es geht weniger um Recht als um Macht. Die USA und Russland streiten über Einflusssphären in Europa. Hier geschieht auf unserem Kontinent etwas, auf das Deutschland keinen Einfluss hat. Das besorgt uns als Europäer.
Großmächte ziehen traditionell „rote Linien“ zur Verteidigung ihrer Einflusssphären. Für die USA war die Stationierung sowjetischer Raketen in Kuba der Klassiker unter den „roten Linien“. Und die Russen zogen eine „rote Linie“, als ihnen aus ihrer Sicht die NATO zu dicht auf den Pelz rückte. Der frühere amerikanische Außenminister Kissinger – sicher kein „Putinversteher“, sondern ein sehr erfahrener Diplomat – wies darauf hin, dass „ein Land, durch das seit Jahrhunderten fremde Armeen marschiert sind, seine Sicherheit notwendigerweise sowohl auf geopolitische als auch auf rechtliche Grundlagen stellt! […] Wenn seine Sicherheitsgrenze von der Elbe 1000 Meilen Richtung Moskau verlegt wird, erhält Russlands Auffassung von einer Weltordnung eine unausweichliche strategische Komponente.“[11] Henry Kissinger betonte auch: „Die Dämonisierung von Wladimir Putin ist keine Politik. Sie ist ein Alibi für die Abwesenheit von Politik“. Eine Anwesenheit von Politik würde bedeuten, schnellstmöglich einen politischen Ausweg aus der Krise zu suchen, statt „neue“ Strategien für das Bündnis zu fordern.
Ich kann mich in einer vier Jahrzehnte umfassenden Arbeit als Angehöriger des Auswärtigen Amtes an keinen einzigen wesentlichen Beitrag aus jenem den Herausgebern von SIRIUS nahe stehenden Bereich der Wissenschaft erinnern, der die wichtigen politischen Prozesse der Vergangenheit – die Entspannungspolitik, die vollständige Vernichtung der nuklearen Mittelstreckenwaffen, die Verhandlungen über die deutsche Einheit und die Entwicklungen der Europäischen Union – sinnvoll gefördert hätte. Wohl aber habe ich schmerzhafte Erinnerungen an die Querschüsse gegen das Auswärtige Amt mit dem Ziel, die Beseitigung der Mittelstreckenwaffen zu verhindern bzw. nach erfolgreichem Abschluss des entsprechenden Vertrages die Modernisierung der nuklearen Kurzstrecken durchzusetzen. Wären die Querschüsse erfolgreich gewesen, hätten wir unter Umständen bis heute weder die deutsche Wiedervereinigung noch die großen Veränderungen in Europa erreicht.
multipolar. Zeitschrift für kritische Sicherheitsforschung, Potsdam, 2/2017.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
[1] – The Future Tasks of the Alliance, Report of the Council – ‚The Harmel Report‘, 13 Dec. 1967 – 4 Dec. 1967, https://www.nato.int/cps/ro/natohq/official_texts_26700.htm (abgerufen am 17.12.2017).
[2] – Vgl. Karl-Heinz Kamp: Grundzüge einer neuen NATO-Strategie, in: SIRIUS – Zeitschrift für strategische Analysen, 2017, Band 1, Heft 1, S. 25.
[3] – Ebenda, S. 26.
[4] – Joachim Krause: Die neue Zeitenwende in den internationalen Beziehungen: Konsequenzen für deutsche und europäische Politik, in: SIRIUS, 2017, Band 1, Heft 1, S. 6.
[5] – Ebenda.
[6] – Vgl. Karl-Heinz Kamp, a.a.O., S. 30.
[7] – Joachim Krause, a.a.O., S. 17.
[8] – Heinrich August Winkler: Denk ich an Deutschland: Die Welt aus den Fugen – Auf der Suche nach neuen Gewissheiten, Vortrag vor der Alfred Herrhausen Gesellschaft am 18.09.2015.
[9] – John J. Mearsheimer: Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault – The Liberal Delusions That Provoked Putin, in: Foreign Affairs, 20. August 2014.
[10] – Vgl. Germany’s Merkel Needs To Ask Tough Questions at NATO Summit, Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS), 31. August 2014, https://www.antiwar.com/blog/2014/08/31/germanys-merkel-needs-to-ask-tough-questions-at-nato-summit/ (abgerufen am 17.12.2017).
[11] – Henry A. Kissinger: Russia should be perceived as an essential element of any new global equilibrium, Vortrag vor der Gorchakow Stiftung, Moskau, 02.04.2016.
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