von Renate Hoffmann
Der vorweihnachtlichen Stimmung sollte man sich nicht entziehen, den stimmungsbestimmenden Ort jedoch sorgfältig wählen. Prag. Früh am Morgen hinauf zur Burg. Noch liegt die Stadt im feinen Dunst der vergangenen Frostnacht. Die Türme der Teynkirche schieben sich durch das Nebelgespinst; auch die Kuppel der St. Nikolauskirche am Altstädter Ring, Hochkultur barocker Baukunst der Architekten Dienzenhofer, Vater und Sohn.
Burg und Veitsdom, Tore, Höfe und Gitter, die kunstvollen, tragen adventlichen Schmuck – Tannengrün und rote Schleifen. Als sei himmelwärts eine Absprache getroffen, fallen die ersten Schneeflocken, sanft und ohne Eile. Sie verleihen den stolzen Palästen mehr Umgänglichkeit, als hätte es seit jeher hinter ihren Mauern nur Ehre-sei-Gott-in-der-Höhe und Friede-auf-Erden gegeben.
Die vielsprachige Touristenschar bewegt sich zum Haupttor und wartet auf die Wachablösung. Mit dem Glockenschlag neun marschieren die Ablöser in Begleitung, galauniformiert, im Paradeschritt zu den beiden Abzulösenden. Sie zelebrieren das Übergabe-Übernahme-Procedere und salutieren. Einer der beiden Abzulösenden hat für sein Gegenüber, außerprotokollmäßig, ein kleines Lächeln. Vielleicht bedeutet es: Ein Glück, dass du kommst, ich habe kalte Füße. – Ein ehrfurchtsvoller Blick in den Dom und zu den Fenstern des exzellenten Malers und Meisters des Jugendstils Alfons Mucha. Woher dieses tiefe Leuchten der Farben?
Über die Schlosssteige hinunter in die Arme der Stadt. Auf der Karlsbrücke drängen sich die Passanten um die Figur des heiligen Nepomuk. Ihn berühren, sich etwas wünschen, im Stillen!, und der Erfolg trifft ein – oder auch nicht. Mein Wunsch zielt auf einen Gang durch das weihnachtliche Prag. Schon nach der Moldauüberquerung geht er in Erfüllung. In Gassen und Gässchen, am Altstädter Ring und auf dem „Wenzel“, allüberall Buden und Stände. Düfte und Gerüche nach Glühwein und gebrannten Mandeln, nach Zimt und Anis, Karamellbonbons und Honigkuchen; nach Spießbraten und kräftig gewürzten Suppen. Das Weihnachtsaroma! Musikanten spielen auf, und ein Kinderchor singt mit Inbrunst „Stille Nacht, heilige Nacht …“ in verschiedenen Sprachen.
Ein Hüttchen trägt den vielversprechenden Namen „Haus Kafka“. Ich hoffte, Bücher darin zu finden, doch das Angebot enthält Glühwein und Trdelník, das traditionelle Gebäck aus Skalica / Skalitz (Slowakei). Baumkuchenähnlich und auf Wunsch verfeinert mit Schokoladenmasse oder Honig oder mit Ohne und Puderzucker, obgleich es bereits aufs Feinste verbessert ist, nämlich mit gehackten Mandeln und Walnüssen. Ein langer Teigstreifen wird akkurat über eine Rolle gewickelt, diese übers Feuer gehängt und gleichmäßig gedreht (man drehe mit Verstand, sonst schmeckt es angebrannt) … fertig ist der Trdelník. Man schneidet ihn in Scheiben und verzehrt ihn mit Genuss. Ich nehme „mit Ohne und Puderzucker“. Schmeckt köstlich.
Eingefangen im weihnachtlichen Getriebe und Geschiebe des Altstädter Rings. Staunend vorbei an der mächtigen, gut gewachsenen Fichte, bestückt mit allem was bunt ist. Spatzen, Tauben und frierende Hunde haschen nach Brosamen.
Die Menschen strömen zum Eingang der St. Nikolauskirche. Ich ströme mit und stehe im Kirchen-Inneren bewundernd unter einem prachtvollen Kristalllüster. Er glitzert und funkelt in vollem Licht und triumphiert in diesem Augenblick sogar über die Deckenfresken des hochgeschätzten bayrischen Malers Cosmas Damian Asam. Den Kronleuchter schenkte der russische Zar Nikolaus II. der Kirche. Sie wurde in den Jahren 1870 bis 1914 von der russisch-orthodoxen Gemeinde genutzt. – Das Glaswunder entstand in den Glashütten von Harrachov und gleicht einem riesigen Diamanten.
Die Prager sagen, ohne die Krippen-Ausstellung wäre Weihnachten kein Weihnachten. Auf dem ausgedehnten Areal der Kirche St. Maria im Schnee, am Jungmann-Platz, findet man sie in einem Nebengebäude. Mit dem Eintritt bin ich inmitten der Weihnachtsgeschichte. An die zweihundert Mal wird sie erzählt. Neben anderem in Holz und Papier und Keramik, Textil, Glas und Gips, in Teig und Pappmaché. Historische Krippen mit Terrakotta-Figürchen in morgenländischer Umgebung. Von Engeln umschwebt und von himmlischen Chören begrüßt (wahrscheinlich singen sie soeben „In dulci jubilo …“, Strophe ein bis vier). Zu erleben ist auch die Weihnachtsgeschichte in moderner Auffassung, ideen- und kunstreich.
In einer mit Sägespänen gefüllten Truhe führt ein Ensemble aus Stoffpüppchen die weihnachtliche Szene auf. Sie tragen alle fröhliche Gesichter, bis auf Maria. Verständlich, sie hat eine Geburt hinter sich. Ein Flügelwesen mit Schriftband „Gloria in excelsis deo“ sitzt auf dem Filzdach. – Joseph, Maria und das Kind, Ochs und Esel, winzig klein und aus Papier gefertigt, sind in einem Köfferchen beherbergt. – Noch beengter ist die Behausung der heiligen Familie samt der bekannten Menagerie in den Hälften von Walnussschalen, sie können sich kaum drehen. – Von beachtlichen Ausmaßen hingegen sind die Darsteller aus Pappmaché in der Legende von der Heiligen Nacht. Ein Elefant wirkt mit und, unverkennbar, eine schwarzbunte Kuh.
Man möchte sie die „Prager Krippe“ nennen, diesen weihnachtlichen Trubel auf dem Altstädter Ring, umstanden von den Palästen, der Teynkirche im Hintergrund und von St. Nikolaus. Viel Volk ist unterwegs. Die heiligen drei Könige ziehen ein. Marktfrauen preisen ihre Waren an. Bettler bitten um einen Beweis der Nächstenliebe. Der Bäcker bringt Leckereien. Ich kann nicht erkennen, ob er Trdelníks im Korb trägt. Hunde trotten durch die Menge. In rührender Eintracht steht ein älteres Ehepaar beisammen und erinnert sich an die Weihnachtstage der eigenen Jugend. Kaiser Karl IV., hoch zu Ross, besucht das Gewimmel seiner Untertanen. Zwei Burgmannen, seine Begleiter, postieren sich vor der Krippe, die im Geschehen etwas unbeachtet bleibt. Maria ist eine Dralle. Joseph erweckt den Eindruck, als wolle er endlich seine Ruhe haben. Der Säugling schläft.
Verschneite Berge und das Wunder von Bethlehem. Zinnfiguren spielen es nach. – Krippen mit Kleindarstellern im Setzkasten, aus Fondantmasse, Glasperlen; und eine Duftkrippe! aus Lebkuchen. Ihr entströmt ein appetitanregender Geruch nach Zimt, Nelken und Vanille. (Verkostung nicht erlaubt!)
Die mechanischen Krippen sind von Kindern umlagert. Alles, aber auch alles ist in Bewegung. Der Engel verkündet mit schwingenden Flügeln die frohe Botschaft. In Ehrfurcht lüftet der Hirte seinen Hut und bedeckt sich wieder, während die Schafe friedlich am Grase zupfen. In der heiligen Unterkunft herrscht Betriebsamkeit. Jesus richtet sich unentwegt auf, ein lebhaftes Kind. Maria wird ihre Not haben. Joseph ist von der Geburt seines Sohnes leicht überfordert und schüttelt den Kopf. Die heiligen drei Könige kommen gemessenen Schrittes. Caspar und Melchior bringen Gold und Myrrhe, Balthasar schwenkt den Weihrauchkessel. Eine Musikkapelle fiedelt, bläst und trommelt „Hosianna“.
Die Geschichte: „Es begab sich aber zu der Zeit / daß ein Gebot von dem Kayser Augusto aus gieng / daß alle Welt geschätzet würde […] Da machte sich auch auff Joseph / aus Galiläa / aus der Stadt Nazareth / in das Jüdische Land / zur Stadt David / die da heisset Bethlehem […] auff daß er sich schätzen liesse mit Mariä seinem vertrauten Weibe / die war schwanger. Und da sie daselbst waren / kam die Zeit, daß sie gebären solte. Und sie gebar ihren ersten Sohn / und wickelte ihn in Windeln / und legete ihn in eine Krippe. Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ (Neues Testament, Lucas-Evangelium, Kapitel 2, Dresden und Leipzig 1702.)
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