von Mario Keßler, New York
„A People’s History of Modern Europe“, das jüngste Buch des US-amerikanischen marxistischen Historikers William A. Pelz ist auch sein letztes: Am 11. Dezember 2017 ist Bill Pelz in seiner Heimatstadt Chicago nach kurzer schwerer Krankheit verstorben. Er wurde nur 66 Jahre alt.
Der Sohn eines Busfahrers war durch Herkunft und Gesinnung den arbeitenden Menschen verbunden. Seine Dissertation schrieb er 1988, angeregt durch das Studium der Werke von Arthur Rosenberg und Ossip Flechtheim über den Spartakusbund in der deutschen Novemberrevolution. Arbeiten über Eugene V. Debs und Wilhelm Liebknecht folgten. 2008 erschien „Against Capitalism: The European Left on the March“, vier Jahre darauf „Karl Marx: A World to Win“ und 2015 „German Social Democracy: A Documentary History“. Unter Pelz’ zahlreichen editorischen Arbeiten ist die „Encyclopaedia of the European Left“ und die Mitherausgabe der englischen Ausgabe von Rosa Luxemburgs Werken zu nennen. Nach langen Jahren befristeter Lehrtätigkeit wurde er schließlich Professor für europäische Geschichte am kleinen Elgin College unweit von Chicago. „Wer baute das siebentorige Theben?“, fragte er mit Brecht am Beginn des Buches.
Der Titel erinnert, und soll dies wohl auch, an Howard Zinns „A People’s History of the United States“ von 1980, eine marxistische Geschichte der USA, in der die sozialen Kämpfe der Arbeiter und anderer ökonomisch und ethnisch-sozial Unterprivilegierter im Mittepunkt stehen. Diese Klassen und Schichten waren auch für Pelz, wie er pointiert schrieb, die „Gorillas“ der Geschichte. Er bezog sich auf ein soziologisches Experiment bei einem Basketballspiel, bei dem eine Zuschauerin mit einem Gorilla auf dem T-Shirt zu sehen ist. Nach Spielende erklärten fünfzig Prozent der Befragten, sie hätten den Träger dieses Kleidungsstücks nicht gesehen, obwohl sie ihn gesehen haben mussten. Sie blendeten also eine ihnen unangenehme Realität aus, und das Gleiche geschehe mit den Volksmassen, wenn diese nicht sittsam schweigen, sondern ihre Forderungen laut und manchmal in schriller Tonart anmelden würden.
Das Buch richtet sich an ein breiteres Publikum, vornehmlich an amerikanische undergraduate students, ist aber auch für historisch interessierte Europäer eine gute Einführung in den Gegenstand. Die ersten beiden der sechzehn Kapitel behandeln die Volkskämpfe im Mittelalter unter Einschluss von Reformation und Bauernkriegen, wobei Pelz ökonomischen und ebenso außerökonomischen Zwangsmaßnahmen wie dem „Ius primae noctis“, dem demütigenden „Recht der ersten Nacht“ des Gutsherrn auf die Braut, den gebührenden Platz einräumt. Für Pelz war Thomas Müntzer nicht nur schlechthin ein „Theologe der Revolution“ im Blochschen Sinn, sondern der geistige und politische Führer eines Kampfes, der gleichermaßen gegen geistige und weltliche Unterdrückung zu richten war. Luther, den Pelz wegen seiner Wendung gegen die Bauern sehr kritisch sah, habe seinen durchschlagenden Erfolg nicht nur seiner Persönlichkeit oder den angestauten religiös-politischen Konflikten zu verdanken gehabt, sondern auch der Tatsache, dass ihm, anders als Wycliff oder Hus, mit der Druckerpresse ein neues Medium zur Verfügung stand, das wichtige Voraussetzungen dafür schuf, dass das Volk in die Politik direkt eingreifen konnte.
Ähnlich dicht an Informationen sind die folgenden Kapitel über den Aufstieg und die Ausbreitung des Industriekapitalismus. Für Pelz beruhte die industrielle Revolution auf einem doppelten Prozess: der Verwandlung des Bauern und Kleinhandwerkers in den „doppelt freien Lohnarbeiter“ sowie der Kolonialexpansion. Dabei hätten die besitzenden Klassen der politischen Teilhabe des Volkes nur dann und stückweise zugestimmt, wo sie nicht umhin konnten, weil anders das Gleichgewicht der Klassenkräfte nicht zu halten gewesen wäre; Pelz zeigte dies an den schleppenden Wahlrechtsreformen in England, dem lange verweigerten Frauenwahlrecht in vielen Ländern Europas und dem Bismarckschen Klassenkompromiss zwischen Adel und Bürgertum auf Kosten der Arbeiter in Preußen.
Die Pariser Kommune, der ein guter Teil des sechsten Kapitels gewidmet ist, sah der Autor nicht nur als soziales Experiment, sondern auch als qualitativ neuartigen Versuch einer partizipativen Demokratie. Dass sie von Anfang an ohne Chance war, minderte in seinen Augen nicht ihr historisches Verdienst, sei doch ohne sie der Aufschwung der Arbeiterbewegung hin zu Massenparteien nicht denkbar gewesen, der im siebenten Kapitel behandelt wird – wiederum als Prozess, bei dem die politische Selbstorganisation der Arbeiter und ihre kulturelle Emanzipation im Zusammenhang beleuchtet werden. Doch gerade die „negative Integration“ der Arbeiterbewegung in die bürgerliche Gesellschaft, die eigene Werte zunehmend nur als gegenkulturelles Abbild der Hegemonialkultur verstand, habe auch zur schleichenden Anpassung an herrschende Normen geführt; eine Anpassung, ohne die die Kriegsbegeisterung von Teilen der Arbeiterparteien im August 1914 nicht denkbar gewesen sei. Die Spaltung in Revolutionäre, Reformer und Linkssozialisten wird in zwei Kapiteln behandelt, wobei Pelz die Luxemburgsche Linke in Deutschland – kritische Solidarität mit Sowjetrussland bei Warnung vor Kopie des dortigen Modells – für zukunftsträchtig hielt. Doch hätte die Allianz von alten monarchistischen Rechten und Freikorps als Vorläufer des Faschismus genau gewusst, warum sie gerade diese Alternative zum bisherigen blutigen Verlauf der Geschichte bekämpfte.
So führt uns der Autor ins 20. Jahrhundert als ein Jahrhundert der vorhandenen, doch bewusst vernichteten Möglichkeiten hin zu einer humanen Ordnung. In nicht weniger als sieben Kapiteln diskutierte er konsequent die Folgen dieser falschen Weichenstellung der Jahre 1918-19. Faschismus, Stalinismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust seien daraus hervorgegangen – nicht unabwendbar, doch habe die radikale Linke 1919 die politische Initiative verloren und nicht zurückgewinnen können. Der Warschauer Ghettoaufstand, obgleich ohne Chance, sei ein Höhepunkt im Selbstbehauptungskampf der Juden, zugleich aber noch mehr gewesen: ein Vermächtnis für alle, die ein Europa der Freiheit und Gleichheit erstrebten und insofern die Fortsetzung der in den vorigen Kapiteln beschriebenen Kämpfe der Völker.
Das 21. Jahrhundert habe alle Voraussagen vom Ende der Geschichte widerlegt, doch sei die Zukunft offen. Auch künftig würden die Volksmassen zwischen der Gestaltung ihrer eigenen Geschichte und der Unterwerfung unter vorgebliche Führer zu wählen haben, und nicht immer würden sie den eigenen Interessen folgen. „Doch ohne die Idee von einer besseren Welt und der Bereitschaft, für sie zu kämpfen“, so Pelz abschließend, „sind die Menschen verloren.“ Sie vor diesem Verloren-Sein zu bewahren, können auch Bücher wie das hier vorliegende ihren Teil beitragen. Umso schwerer wiegt der Verlust, Bill Pelz, den freundlichen, lebensklugen und stets lebenslustigen Menschen, nicht mehr unter uns zu wissen.
William A. Pelz: A People’s History of Modern Europe, Pluto Press, London/Chicago 2016, 256 Seiten, 68,69 Euro (in der Kindle-Edition 14,17 Euro; Taschenbuch 15,88 Euro).
Schlagwörter: Arbeiterbewegung, Europa, Geschichte, Mario Keßler, Volkskämpfe, Volksmassen, William A. Pelz