von Mathias Iven
Laurenz Lütteken, seit 2001 Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität Zürich, kann auf eine beeindruckende Publikationsliste verweisen. Thematisch breit gefächert umspannt sein Arbeitsfeld rund 700 Jahre Musikgeschichte, angefangen bei den Motetten des Mittelalters bis hin zur Musik der Neuzeit. Sein besonderes Augenmerk gilt dabei seit vielen Jahren dem Leben und Werk von Wolfgang Amadeus Mozart. In seinem neuesten Buch lässt er die allbekannten, besonders auf die Werkanalyse ausgerichteten Fragestellungen der Mozart-Forschung außer Acht und stellt das bis dato als beiläufig oder pauschal behandelte Verhältnis Mozarts zur Aufklärung – und umgekehrt der Aufklärung zu Mozart – in den Mittelpunkt. Lüttekens schon vor geraumer Zeit in diesem Zusammenhang formulierte These besagt, „dass Mozart – als Komponist, also auch und vor allem in seinen Werken – diese Aufklärung verkörpert hat wie nur wenige seiner Zeitgenossen“. Dementsprechend geht es ihm weniger um biographische Details, als um die Gesamterscheinung Mozart. Unter Berücksichtigung „möglichst aussagekräftiger Handlungszusammenhänge“ versucht er deshalb, „bestimmte, besonders auffällige und signifikante Charakteristika von Mozarts Existenz in einen engen Zusammenhang mit Verständnismustern zu bringen, wie sie das 18. Jahrhundert bereithielt“.
Zu diesen Charakteristika zählt zuvorderst die von Lütteken ausführlich dargestellte und Mozarts Ruf als „Wunderkind“ geschuldete frühe Reisetätigkeit des Komponisten. Die Wahrnehmung verschiedener Orte und konfessioneller Strukturen sowie die Berührung mit unterschiedlichen gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten hat Mozarts eigene Verhaltensweisen maßgeblich beeinflusst. Lütteken zeigt in eindrucksvoller Weise, wie diese „einzigartige lebensweltliche Verbindung von ganz praktischer, geographischer, sozialer und ästhetischer Erfahrung“ zur „Rekonstruktion einer mentalen Landkarte“ genutzt werden kann. Es gab, so lässt sich feststellen, „kein anderes Kind im 18. Jahrhundert, das über Jahre mit so heterogenen Kontexten konfrontiert wurde“ – was sich nicht nur in Mozarts weitgefächerter sozialer Lebenspraxis niederschlug, sondern vor allem „in einer intellektuellen Beweglichkeit erstaunlichen Ausmaßes“.
Neben den Reisen prägten „geographische Fixpunkte“ Mozarts Leben. Zum einen sind da Salzburg und Wien zu nennen, zum anderen darf man aber auch Prag nicht vergessen. Während der 1780er Jahre hatte Mozart eine besondere Beziehung zu der Moldau-Metropole. Zwar ist auf diesen Umstand schon vielfach hingewiesen worden, doch Lütteken stellt zu Recht klar, dass die Rolle der Stadt „in der intellektuellen Topographie des 18. Jahrhunderts noch immer weitgehend unklar“ ist. Prag, „eine Residenzstadt ohne Residenten“, war im Unterschied zu London oder Paris zur damaligen Zeit am ehesten vergleichbar mit Venedig. So verfügte die Stadt „nicht über jene Bedingungen, die für die Aufklärung konstitutiv waren: keine Ausprägung von dem, was man vielleicht bürgerliche Öffentlichkeit nennen könnte; keine Opposition bzw. Reibungsflächen zu einem Hof“. Was Prag für Mozart dennoch oder gerade zu einem idealen Ort machte, war die Tatsache, dass er sich hier bei „seinem Versuch, das Jahrhundert der Aufklärung an radikale Grenzen zu führen“, nicht einmal ansatzweise des genuinen Mediums der Aufklärung, „also der Debatte, des Streits, der schriftlichen Äußerung, der Theorie“, bedienen musste.
Ein ganz anderer, insbesondere die Nachwirkung Mozarts bestimmender geographischer Fixpunkt war Weimar. Im Park von Tiefurt, dem Sommersitz von Herzogin Anna Amalia, wurde 1799 das erste dem Komponisten gewidmete Denkmal außerhalb Österreichs errichtet. Das von dem Weimarer Hofbildhauer Martin Gottlieb Klauer geschaffene, mit der Aufschrift „Mozart und den Musen“ versehene Parkelement verzichtete bewusst auf die körperliche Darstellung des Komponisten und zeigt stattdessen eine für die poetische Inspiration stehende Leier. Die Aufstellung des Denkmals verdankte sich wohl letztlich der Entscheidung des Theaterdirektors Goethe, unter dessen Intendanz Mozarts Opern einen festen Platz im Spielplan hatten. Zugleich kann das Denkmal aber auch als ein „Monument der Selbstvergewisserung“ gedeutet werden, entstand es doch zu einem Zeitpunkt, als sich der Dichter und Staatsmann Goethe künstlerisch neu positionierte. Oder, wie es Lütteken ausdrückt: „Es ist ein zum plastischen Monument gewordenes ästhetisches Programm“, das „gewissermaßen das Schlußstück von Mozarts 18. Jahrhundert“ bildet.
Jedem an Mozarts Musik, vor allem aber an seinem Leben Interessierten sei dieses Buch wärmstens empfohlen. Lütteken brilliert nicht nur an den Stellen, wo es um einen neuen Blick auf Altbekanntes geht. Hervorzuheben ist der seiner exzellenten und klaren Darstellung zugehörige, fast 30 Seiten umfassende biographische Index, der nicht nur knapp 100 Personen auflistet, sondern kurz und knapp deren jeweilige Beziehung zu Mozart umreißt.
Laurenz Lütteken: Mozart – Leben und Musik im Zeitalter der Aufklärung, Verlag C. H. Beck, München 2017, 296 Seiten, 26,95 Euro.
Schlagwörter: 18. Jahrhundert, Aufklärung, Laurenz Lütteken, Mathias Iven, Mozart, Musikgeschichte