von Hannes Herbst
Wer, wie der Rezensent, Speers „Erinnerungen“ und seine „Spandauer Tagebücher“, dazu Joachim Fests „Speer. Eine Biographie“ sowie Gitta Serenys „Das Ringen mit der Wahrheit. Albert Speer und das deutsche Trauma“ weitgehend unkritisch, also bloß konsumierend, gelesen und das Thema Speer damit vor Jahren abgehakt hatte, dem beschert Magnus Brechtkens Wälzer „Albert Speer. Eine deutsche Karriere“ eine Lektion, wie man sie nicht alle Tage erleidet und wie man sie bestimmt nicht wieder vergisst: Dass nämlich, beginnend bereits unmittelbar nach Kriegsende, noch vor dem Nürnberger Prozess, Speers Lebensgeschichte von ihm selbst und nach seiner Entlassung aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis im Jahre 1966 dann vor allem mit Hilfe seines Ghostwriters Fest und seines Verlegers Wolf Jobst Siedler entlang biographischer Fakten völlig neu komponiert und interpretiert wurde.
Diesen Prozess haben zahlreiche, in ihrem Metier teils hoch geschätzte Hiwis – darunter Sereny und der namhafte britische Historiker Hugh Trevor Roper – unterstützend begleitet. Das Ergebnis ist eine der größten und genialischsten, besser: perfidesten Geschichtsverfälschungen in der Bundesrepublik. Sie dürfte in der jüngeren Historie ihresgleichen suchen, schuf und etablierte sie doch in der westdeutschen und darüber hinaus westlichen, speziell angloamerikanischen Öffentlichkeit erfolgreich und zu einem nicht geringen Teil bis in die unmittelbare Gegenwart vorherrschend ein Bild von Albert Speer, hinter dem dessen historisch reale Gestalt praktisch vollständig verschwand.
An ihre Stelle trat ein mehr oder weniger zufällig ins Zentrum des Hitlerregimes geratener Technokrat, der lediglich seine Pflicht erfüllte, ein verführter Intellektueller und Schöngeist, der KZ-Häftlingen Wohltaten angedeihen ließ und gegen Kriegsende gar zum wirkungsvollen Widerständler und zum Fast-Führerattentäter wurde. Mit einem Wort – ein „Gentleman-Nazi“. Tatsächlich aber war Speer: engagierter Nazis, Gefolgsmann und gegen Kriegsende potenzieller Nachfolger Hitlers, ein Kriegsverlängerungsorganisator und -logistiker mit ausgeprägter Selbstbedienungsmentalität, der es keineswegs verabsäumte, mehr als nur ein privates Schäfchen ins Trockene zu bringen. Speer war auch: nicht nur Mitwisser, sondern aktiver Mittäters der faschistischen Rassenpolitik und des Holocausts und insgesamt eine Zentralfigur des deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieges.
Erfolg damit, all diese Aspekte seines Charakters und seines Handelns zu verbergen, hatte Speer bereits in Nürnberg, wo er den Anklägern gegenüber eine solche Unterschiedenheit zu den anderen mitangeklagten brauen Paladinen glaubhaft machen konnte, dass er mit zwanzig Jahren davonkam, statt – wie unter anderem Fritz Saukel – ebenfalls dorthin expediert zu werden, wohin er gehört hätte: an den Galgen. (Saukel hatte die Millionen von ausländischen Zwangsarbeitern auch für die von Speer schließlich nahezu komplett geleitete deutsche Rüstungswirtschaft ja „bloß“ organisiert; ausgebeutet wurden und häufig Schlimmerem ausgesetzt waren sie in Speers Zuständigkeitsbereichen – von den zu Tode geschundenen KZ-Häftlingen etwa im Mittelbau Dora, die Speer von der SS überantwortet wurden, gar nicht zu reden.)
In Nürnberg konnte Speer nicht zuletzt deswegen seine Haut retten, weil ihm infolge der damaligen Aktenlage nicht nachgewiesen werden konnte, dass seine Behauptung, von der Verfolgung und Vernichtung der Juden nichts gewusst zu haben, eine Lüge war.
Weiteren Erfolg hatte Speer nach den Jahren in Spandau vor allem dank so bürgerlich-renommierter Helfer wie Fest und Siedler, die Speers Legenden den Weg in die Öffentlichkeit ebneten (und damit prächtige Geschäfte machten), ohne deren Wahrheitsgehalt je anhand von seinerzeit bereits ausreichend zugänglichen Akten und anderen Dokumenten geprüft zu haben. Fest, der sich gern als Experte in Sachen Drittes Reich gerierte und selbst eine voluminöse Hitler-Biographie verfasst hatte – ebenfalls praktisch ohne angemessenes Quellenstudium, dafür aber gestützt auf den Zeitzeugen Speer – rechtfertigte diese Arbeitsweise bis an sein Lebensende, was als „Offenbarungseid historiographischer Ignoranz […] peinlich genug“ sei, wie Brechtken völlig zu Recht anmerkt.
Es blieb einer späteren Generation von jungen Wissenschaftlern vorbehalten, den Mythos Speer mit immer neuen Teilerkenntnissen zu entblättern, ohne aber auch nur im Ansatz eine vergleichbare öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und ihre Arbeitsergebnisse ziehen zu können wie Speer und seine Entourage. Magnus Brechtken nennt gleich eingangs Dietmar Arnold, Ulrich Chaussy, Eckhart Dietzfelbinger, Yasmin Doosry, Werner Durth, Karl-Heinz Ludwig, Hans J. Reinhardt, Wolfgang Schäche, Angela Schönberger, Matthias Schmidt, Heinrich Schwendemann und Susanne Willems, zitiert im Folgenden häufig aus deren Erkenntnissen und würdigt damit nicht zuletzt die Leistungen dieser Phalanx. So ist zum Beispiel der Berliner Historikerin Willems der Nachweis der Verantwortung Speers bei der Erfassung und Deportation der Berliner Juden zu danken.
Eine herausragende Würdigung erfährt auch die Arbeit des politisch couragierten (O-Ton Brechtken) Filmemachers Heinrich Breloer, dessen Fernseh-Vierteiler „Speer und Er“ im Mai 2005 gesendet wurde. „Nichts sollte danach bleiben, wie es war“, so der Autor: „Das überkommene Bild vom ‚verführten‘ Technokraten und ‚guten Nazi‘ Speer war zerstört.“ Und das obwohl, wie der Autor feststellt, Breloers Arbeit nicht frei von gravierenden Schwächen war – wie etwa einer spürbaren „Nachsicht mit Speers Helfern, allen voran Fest und Siedler, die zwar als Zeitzeugen befragt, nicht aber als Mitkonstrukteure und Propagandisten des Speer-Images sichtbar wurden“. Auch seien „bedeutende Unterstützer Speers und deren Verbindungen zur bundesdeutschen Politik, von Hans Globke und Robert Kempner über Ernst Wolf Mommsen bis zu Karl Hettlage“ außen vor geblieben.
Brechtken ist im vergangenen November für sein „akribisch recherchiertes und spannend geschriebenes Werk“ – so die Jury – mit dem „NDR Kultur Sachbuchpreis 2017“ geehrt worden. Da bleibt dem Rezensenten nur noch, die Jury zu ihrer Entscheidung zu beglückwünschen.
Magnus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere, Siedler Verlag, München 2017, 910 Seiten, 40,00 Euro.
Schlagwörter: Albert Speer, Drittes Reich, Hannes Herbst, Hitler, Holocaust, Joachim Fest, Jobst Siedler, KZ, Magnus Brechtken, Zweiter Weltkrieg