von Ulrich Busch
Erklärter Anlass für das Treffen war der 50. Jahrestag des Abschlusses der Schule. Hinter diesem Jubiläum steckt jedoch ein zweiter Grund: der 60. Jahrestag der Einschulung. Genau genommen ist dieses Datum sogar wichtiger als jenes, markiert es doch den Wechsel vom bloßen Kind-Sein zum Schulalltag, den Übergang aus der Privatsphäre ins Gesellschaftliche. Auch wenn die soziale Prägung und Formung der Persönlichkeit bereits im Vorschulalter beginnt, so nimmt sie mit dem Eintritt in die Schule doch organisierte Formen an und erfolgt nun nach einheitlichen Vorgaben und Maßstäben. Die Folge ist, dass die Angehörigen eines Jahrgangs zu vielen Fragen des Lebens ähnliche Auffassungen haben, häufig sogar die gleichen Ansichten teilen. Darin zeigt sich, dass wir eben nicht nur denken und fühlen, was wir wollen, sondern auch, was zeitgemäß ist beziehungsweise, was uns die Zeit und die Umstände vorgeben. Dieser generationsbezogene Konsens bildet die Basis dafür, dass man sich, wenn man zur gleichen Zeit dieselbe Schule besucht hat, selbst noch im Alter unkompliziert verständigen kann und gut versteht. Das war auch auf dem Klassentreffen zu beobachten: Es gab keine Kommunikationsprobleme, auch nicht nach 60 Jahren.
Über die Jahre und Jahrzehnte fällt so manches der Vergessenheit anheim. Andererseits erinnert man sich plötzlich an Dinge, die einem jahrzehntelang nicht präsent waren. Mitunter bedarf es dafür nur eines Anstoßes, zum Beispiel durch ein Gespräch. – Mir scheint fast, solche gegenseitigen Erinnerungshilfen waren der Hauptinhalt des Abends. Nicht alles aber, was dabei zutage kam, war authentisch. Mitunter war es auch ein Erinnern an eine Erinnerung, an ein früheres Gespräch oder bloß eine Einbildung. So etwas gibt es im Alter. Und im Herbst des Lebens erscheint alles Frühere ohnehin in ein mildes Licht getaucht. Überhaupt ist das Gedächtnis nichts als ein selektives Vergessen. Verglichen damit, was man erlebt hat, ist das, was im Gedächtnis haften bleibt, außerordentlich wenig. Zudem sind selbst objektive Fakten bei jedem sich erinnernden Subjekt anders „gefärbt“. Man hat also möglicherweise durchaus die gleiche Vergangenheit, aber niemals dieselben Erinnerungen. Das ist ein kritischer Punkt. Ein einvernehmliches Gespräch über Vergangenes kann dadurch schnell zu einem Streitgespräch werden. Um das zu vermeiden, empfiehlt es sich, Erinnerungsdispute nicht allzu sehr zu vertiefen. Nur, wenn man an der Oberfläche bleibt, lässt sich der freundliche Konsens aufrechterhalten. Jede Vertiefung dagegen birgt die Gefahr eines Dissens‘ in sich. Auch erzeugt ein Konsens so etwas wie ein „Heimatgefühl“. Es zu zerstören wäre bedauerlich und würde der Atmosphäre schaden.
Es versteht sich von selbst, dass die auf einem solchen Treffen Anwesenden auf sehr unterschiedliche Biografien zurückblicken. Einiges davon wird im Gespräch preisgegeben, etwa berufliche Erfolge. Das meiste aber, worüber hier berichtet wird, ist eher unwichtig, wie beispielsweise die Anzahl der Enkelkinder, absolvierte Auslandsreisen oder neu erworbene Möbel. Die wirkliche Wahrheit erschließt sich dem Zuhörer daher nur unvollständig oder indirekt, etwa durch das beredte Verschweigen oder Auslassen bestimmter Lebensbereiche und -abschnitte. Man ist deshalb versucht, sich aus dem wenigen, was man von früher weiß, ein „Bild“ zu machen. Das Paradoxon „Man wird, was man ist“ (Nietzsche) kann dabei helfen. Denn, gilt diese Regel, so gilt auch die andere, nämlich die, dass man ist, was man war. – Und was die Betreffenden einst waren, das glaubt man zu wissen. Man ist ja mit ihnen in ein und dieselbe Klasse und Schule gegangen.
Gegen diese Überlegung ließe sich psychologisch einiges einwenden: Sie gilt weder absolut noch ist sie exakt. Trotzdem ist die zu beobachtende Konstanz der Persönlichkeitsmerkmale beachtlich. – Vielleicht ist man heute nicht mehr genau derselbe, der man früher einmal war. Aber man ist auch nicht ein gänzlich anderer geworden!
Das Wichtigste an einem Klassentreffen ist natürlich das Treffen selbst. Es regt aber auch an, über bestimmte Phänomene nachzudenken. Zum Beispiel über die gemeinsamen Erfahrungen und die Verarbeitung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Dafür drei Beispiele:
Erstens der „Schülerschwund“ Ende der Fünfzigerjahre. Am Tag der Einschulung umfasste der Jahrgang drei Klassen mit jeweils etwa 33 Schülerinnen und Schülern, insgesamt also rund 100 Erstklässler. Vier Jahre später gab es nur noch zwei Klassen. Da sich die Zu- und Wegzüge innerhalb der Region in etwa ausglichen, ebenso die Zahl der Sitzenbleiber, bleibt als Erklärung nur die „Republikflucht“ – ein Faktum, das erstaunlicherweise kaum thematisiert worden ist. Es war auch niemand der bis 1961 in den Westen Ausgereisten beim Treffen anwesend. Zufall oder Absicht? Auf jeden Fall ein bemerkenswertes Defizit! Nach der 8. Klasse vollzog sich ein weiterer „Aderlass“: Die Besten wechselten zur Erweiterten Oberschule (EOS), die Schlechtesten gingen ab, einige besuchten Spezialschulen. Die Schülerzahl, die übrig blieb, reichte gerade noch zur Bildung einer einzigen Klasse. Die beendete 1967 regulär die Schule, sie umfasste da aber nur noch rund ein Drittel der 1957 Eingeschulten!
Zweitens die biografischen Brüche infolge des Umbruchs zu Beginn der Neunzigerjahre: In einer Stadt wie Magdeburg, die besonders hart von der Deindustrialisierung und vom Strukturwandel betroffen war, ist es sehr wahrscheinlich, dass der überwiegende Teil dieses Jahrgangs seinen alten Arbeitsplatz verlor und den Beruf oder den Arbeitsort oder beides wechseln musste. Das barg neue Chancen, brachte aber auch Verluste mit sich. Für viele dürfte es die entscheidende Zäsur im Leben gewesen sein, mit Konsequenzen auch im Persönlichen. In den Gesprächen beim Klassentreffen blieb diese Problematik aber weitestgehend ausgeblendet. Es gab weder Larmoyanz noch Kritik. Zeigt sich darin ein neues Muster im Umgang mit der Vergangenheit?
Drittens: demografische Verschiebung. Betrachtet man alte Klassenfotos, so erkennt man eine ausgeglichene Geschlechterstruktur. In der Klasse 1c zum Beispiel saßen 16 Mädchen und 17 Jungen. Beim Klassentreffen aber waren zwei Drittel der Anwesenden Frauen und nur ein Drittel Männer. Inwieweit das mit dem vorangestellten Aspekt korrespondiert, sei dahingestellt. Es verändert sich dadurch aber der Charakter derartiger Treffen. – Ein Faktum, das kaum bemerkt worden zu sein scheint! – Bekanntlich wächst mit dem Älterwerden die Vergangenheit – in ihrer zeitlichen Dimension wie in ihrer Bedeutung. Klassentreffen bieten dafür einen geeigneten Raum. Daher wächst mit dem Alter zwangsläufig das Interesse an solchen Begegnungen.
Schlagwörter: Biografie, Demografie, Heimat, Klassentreffen, Schule, Ulrich Busch, Umbruch