20. Jahrgang | Nummer 23 | 6. November 2017

„Der General“ Friedrich Engels

von Lutz Unterseher

Friedrich Engels, 1820 in Barmen geboren, einer Stadt im östlichen Rheinland, die von aufblühendem Unternehmertum protestantisch-pietistischer Orientierung geprägt war, durchlief als Sohn eines Industriellen aus der Textilbranche die Ausbildung zum Kaufmann, zeitweise auch im Kontor des väterlichen Zweiggeschäfts in Manchester. Wie aber kam er zu dem Beinamen „der General“?
Als preußischer Untertan hatte Engels seiner Militärdienstpflicht genügt, nämlich als „Einjährig-Freiwilliger“ in einem Artillerieregiment zu Berlin. Eben dort war er in Beziehung zu jüngeren Vertretern der Linkshegelianer getreten, wodurch sein philosophisches Interesse angeregt wurde. Dies war die geistige Brücke zu seinem späteren Freund Karl Marx, den er 1842 kennenlernte und der damals als Redakteur an der als fortschrittlich geltenden Rheinischen Zeitung in Köln arbeitete. 1844 vertiefte er die Bekanntschaft mit Marx und vollzog gemeinsam mit dem Freund den philosophischen Übergang vom Hegelianismus zum Kommunismus: vom Idealismus zu einer Dialektik mit realem beziehungsweise „naturalistischem“ Bezug. (Den „dialektischen Materialismus“ – „Diamat“ – sollten erst Lenin und Stalin, einer Staatsreligion bedürftige Herrscher, kreieren und zum Dogma machen.) 1847 dem in Brüssel gegründeten Bund der Kommunisten beigetreten, verfassten Marx und Engels 1848 in dessen Auftrag das „Manifest der kommunistischen Partei“.
1849 brachen nach der Verabschiedung einer Reichsverfassung durch die Paulskirchenversammlung in Sachsen, Baden und in der Pfalz bewaffnete Aufstände aus. Deren Ziel war es, diese Verfassung den widerstrebenden regionalen Fürsten aufzuzwingen. Engels schloss sich den Aufständischen an und nahm an den Kämpfen in der Pfalz und in Baden teil.
Nach dem Misserfolg der Aufstände sah er sich gezwungen, über die Schweiz nach England zu fliehen, wo er 1850 wieder in das väterliche Geschäft in Manchester eintrat und zugleich eine reiche journalistische und schriftstellerische Tätigkeit entfaltete. Als Schriftsteller widmete er sich vor allem der Verteidigung und Systematisierung der Marxschen Lehre. Als Journalist lieferte er scharfsinnige Kommentare zu den damals aktuellen Entwicklungen: in der internationalen Politik und ganz besonders auch im Hinblick auf militärische Konflikte.
Während der Kämpfe in Süddeutschland und danach hatte Engels aktive Offiziere kennengelernt, die zu den Aufständischen übergelaufen waren. Deren niedriges fachliches Niveau erschütterte ihn. Ihm wurde klar, dass eine künftige „echte“ Revolution, ein Bürgerkrieg mit einem klassenbewussten Proletariat als zentralem Akteur, nur bei gelungener Professionalisierung Erfolg haben könnte. Bald dachte er an einen „Generalstab“ der kommunistischen Revolution, zu dessen Chef er sich berufen fühlte. Er, der sich trotz kurzer militärischer Erfahrung als Zivilisten sah, wollte den Berufssoldaten zeigen, wie mit militärischen Dingen richtig umzugehen wäre.
So entwickelte er eine beträchtliche Expertise auf dem Gebiet des Kriegswesens, die ihm insbesondere bei seinen englischen Genossen auch in dieser Hinsicht Respekt verschaffte. So nannte man ihn in den Londoner Sozialistenkreisen bald „the General“, wobei es allerdings einen ganz leichten spöttischen Unterton gab. Von „militärischen Schrullen“ zu sprechen, hätte sich aber keiner getraut. Dies blieb einem gewissen Herrn Schulz vorbehalten: und zwar in einem Artikel, den er 1925 in der Wiener Monatsschrift Der Kampf veröffentlichte.
Am 19. Juni 1851 schrieb Engels seinem Freund Weydemeyer, einem ehemaligen preußischen Artillerieoffizier, einen Brief, in dem er um Literatur zu militärischen Fragestellungen bat. In diesem Schreiben erklärte er zunächst sein Interesse am Gegenstand: „Ich habe, seit ich hier in Manchester bin, angefangen, Militaria zu ochsen … Die enorme Wichtigkeit, die die partie militaire bei der nächsten Bewegung bekommen muss, eine alte Inklination, … schließlich meine glorreichen Abenteuer in Baden, alles das hat mich darauf geworfen, und ich will es wenigstens so weit … bringen, dass ich theoretisch einigermaßen mitsprechen kann, ohne mich zu sehr zu blamieren.“
Engels las „Vom Kriege“ des Carl von Clausewitz und war angetan. Vermutlich kam ihm dessen Art zu denken vertraut vor. Lässt sich doch bei dem preußischen Kriegsdenker die dialektische Methode Hegels wiedererkennen. Bei Hegel ging es um eine Dialektik der Denkvorgänge und der sich entwickelnden Begrifflichkeit. Doch schien von Clausewitz diese Ebene zumindest tendenziell zu verlassen, wenn er Begriffe, hinter denen sehr reale Konstrukte stehen, in einem dialektischen Verhältnis sah. Man denke an den von ihm postulierten Umschlag der Verteidigung in den Angriff. Die Dialektik vom Kopf auf die Füße gestellt? Ganz nach dem Geschmack eines Mannes, der sich als geistig Wahlverwandten des Karl Marx sah!
Engels war bei der Informationssuche über das Kriegswesen unermüdlich: Seine Expertise wuchs und resultierte in einer umfangreichen Publikationstätigkeit. Marx hatte in den militärischen Sachverstand Friedrich Engels’ volles Vertrauen. Auch er widmete den bewaffneten Konflikten seiner Zeit große Aufmerksamkeit. Passagen seiner Texte, die auf solche Auseinandersetzungen eingingen, ließ er gern von Engels schreiben.
Gierig sog dieser die Informationen auf, die er mit den Nachrichtenmitteln seiner Zeit über die damaligen Kriege in der Welt erhaschen konnte: über den Krimkrieg, die italienischen Einigungskriege, den Sepoy-Aufstand gegen die Engländer in Indien, den amerikanischen Bürgerkrieg oder auch den deutsch-französischen Krieg mit seinen Nachwehen innerhalb Frankreichs.
Er widmete sich dem Militärischen in seiner ganzen Breite: auf der gesamtstrategischen Ebene, im Hinblick auf operativ-strategische Vorgänge sowie auch Entwicklungen von Taktik und Technik betreffend.
In der Kategorie der gesamtstrategischen Betrachtungen finden sich zum Beispiel zwei Broschüren, die Engels 1859 und 1860 anonym in Berlin publizierte: „Po und Rhein“ sowie „Savoyen, Nizza und Rhein“. In diesen Arbeiten analysierte er die strategische Lage in West- und Südwesteuropa – samt der militärisch relevanten Potentiale der Staaten dieser Region. Besonders bemerkenswert darin ist seine Diskussion des damals virulenten Konzeptes „natürlicher Grenzen“, das er als ideologisch entlarvte. Die von dem einen ersehnten natürlichen Grenzen (entlang eines strategisch wichtigen Flusses, Gebirges und so weiter) sind nicht die des Nachbarn. Der hat in der Regel konträre Vorstellungen; Grenzziehungen sind nicht objektivierbar: Konsens eher unwahrscheinlich, Krieg wahrscheinlich.
Auf der Ebene der großen, strategisch relevanten Operationen sind vor allem auch seine Betrachtungen zum Italienkrieg von 1859 – und in diesem Kontext die Würdigung des Eisenbahntransports – von besonderem Interesse. Konkret im Hinblick auf die Rolle der Eisenbahn (und auch der Dampfschiffe) wurde er in einem Artikel für die Zeitschrift Das Volk vom 28. Mai 1859, in dem er die Konfrontation Österreichs mit der Allianz Frankreich-Piemont beschrieb: „Nur durch die Eisenbahnen und Dampfschiffe war es den Franzosen möglich, während der fünf Tage zwischen der Abgabe des österreichischen Ultimatums und dem Einrücken der Österreicher solche Massen von Truppen nach Piemont zu werfen, dass jeder österreichische Angriff auf die piemontesische Stellung ohne Resultat bleiben musste, und diese Massen während der folgenden Woche so zu verstärken, dass am 20. Mai wenigstens 130.000 Franzosen zwischen Asti und Navi in Linie standen.“
In der Schrift „Po und Rhein“ widmete sich Engels auch der Eventualität eines Angriffs auf Frankreich aus Nordosten. Dabei legte er eine Umgehung der französischen Verteidigung durch Belgien, die den direkten Weg nach Paris blockierenden festen Plätze „links liegen“ lassend, als zweckmäßig nahe, wie es später der in Deutschland gefeierte Schlieffen-Plan vorsah.
Zugleich sah er – wahrhaft prophetisch – das Scheitern eines solchen Unterfangens voraus und ließ dabei seine Bewunderung für das französische Eisenbahnsystem erkennen. Paris säße darin wie eine Spinne im Netz, weswegen sich auch aus unterschiedlichsten Richtungen kommenden Bedrohungen gut begegnen ließe. „An welchem Punkt der Feind auch am stärksten auftreten möge, überall kann ihm von Paris aus auf Eisenbahn die ganze Macht der Reservearmee entgegengeworfen werden.“
Ähnlich eindrucksvoll sind die Betrachtungen, die Engels zum amerikanischen Bürgerkrieg anstellte, wobei es ebenfalls um die Rolle des Eisenbahntransports ging.
Nicht nur die großen Operationen faszinierten Engels. Auch Fragen der militärischen Taktik bewegten ihn. So erkannte er, ein früher Soziologe, dass Kampfweise und Sozialcharakteristik der Soldaten zusammenhängen:
Einem Kosaken, mit seiner freiheitlichen Tradition, traute er nicht zu, in geschlossener Formation ordentlich kämpfen zu können, während er einen aus der Leibeigenschaft rekrutierten Russen für unfähig hielt, Initiative und Beweglichkeit zu zeigen, was aber von der Taktik aufgelockerter Schützenschwärme gefordert wurde.
Auch die Beziehungen zwischen Technik und Taktik untersuchte Engels: etwa die Folgen des Übergangs vom Vorderlader- zum Hinterladerprinzip bei den Infanteriegewehren. Seine Einschätzung: Wegen erhöhter Feuergeschwindigkeit der Verteidiger sei der frontale Sturmangriff fortan unsinnig.
Ebenso widmete er sich einem Lieblingsmittel der „Revoluzzer“ seiner Zeit: der Barrikade (für die Verwendung im Straßenkampf). Wegen der gesteigerten Schlagkraft regulärer Truppen, des Zerstörungspotentials ihrer Waffen, hielt er die Barrikade für antiquiert, als Mittel des Aufstands nur noch ausnahmsweise einzusetzen – und im Übrigen auch für zu statisch. Er sah die Revolutionäre der Zukunft in dynamischer Aktion: professionell geführt, besser gerüstet als anno dunnemals und den Truppen der Herrschenden immer einen Schritt voraus.
Mit einer anderen Form der unkonventionellen Kriegführung hat sich Engels gleichfalls befasst: dem Guerillakrieg, damals oft auch „Volkskrieg“ genannt. Er stellte sich die Frage, wie ein Land gegenüber einem an regulären Truppen überlegenen Invasoren erfolgreich zu verteidigen wäre. Seine Lösung bestand in der Entwicklung einer Guerilla zur Unterstützung der eigenen Heereskräfte. Auf diese Weise ließe sich die Schwäche der regulären Truppen auf der Seite des Angegriffenen kompensieren.
Nach der italienischen Niederlage bei Novara am 23. März 1849 schrieb Engels in der Neuen Rheinischen Zeitung vom 1. April desselben Jahres: „Es war von vornherein ein … Fehler, dass die Piemontesen den Österreichern bloß eine regelmäßige Armee entgegensetzten, dass sie mit ihnen einen gewöhnlichen, bürgerlichen honetten Krieg führen wollten. Ein Volk, das sich seine Unabhängigkeit erobern will, darf sich nicht auf gewöhnliche Kriegsmittel beschränken. Aufstand in Masse, Revolutionskrieg, Guerillas überall, das ist das einzige Mittel, wodurch ein kleines Volk mit einem großen fertig werden, wodurch eine minder starke Armee in den Stand gesetzt werden kann, der stärkeren … zu widerstehen.“
Als ordentlicher Kommunist schuldete Engels seinem Publikum selbstverständlich auch Visionen. Dabei wurde er auf eine beklemmende Weise prophetisch. So befürchtete er bereits 1887, dass die sich gegenseitig hochschaukelnden Militarismen und Imperialismen seiner Zeit zu einem „Weltkrieg“ führen könnten – und zwar mit fürchterlichen, allerdings auch Hoffnung machenden Folgen: „Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa kahlfressen wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstung des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahren und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unseres … Getriebes in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankrott; Zusammenbruch der alten Staaten … , derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorauszusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Sieges der Arbeiterklasse.“
Nicht ganz klar wird vor dem Hintergrund des Schreckensgemäldes, warum am Ende die Arbeiterklasse siegen wird. Diese Hoffnung wirkt wohl etwas aufgesetzt: trotz aller „Umschlagsdialektik“.
Ein anderer, der etwa zur selben Zeit wie Engels die Vision der Gefahr eines Weltkrieges hatte, der in Paris lebende, aus Radom stammende jüdische Bankier Ivan Bloch, hegte eine solche Erwartung nicht. Er sah nur tabula rasa und Chaos.
Er unterschied sich von Engels auch dadurch, dass er mit der industriellen Entwicklung eine Zunahme der Vernichtungskraft der Waffen erwartete, deren Wirkung er im Geiste so getreulich simulierte, dass sich daraus das reale Erscheinungsbild des Ersten Weltkrieges ergab.
Engels hingegen nahm an, dass die Entwicklung der Waffentechnik im Wesentlichen nicht mehr weitergehen würde: „Mit dem deutsch-französischen Krieg ist ein Wendepunkt eingetreten von ganz anderer Bedeutung als alle früheren. … die Waffen (sind) so … vervollkommnet, dass ein neuer Fortschritt von … umwälzendem Einfluss nicht mehr möglich ist. Wenn man Kanonen hat, mit denen man ein Bataillon treffen kann, soweit das Auge es unterscheidet, und Gewehre, die für einen einzelnen Mann als Zielpunkt dasselbe leisten und bei denen das Laden weniger Zeit raubt als das Zielen, so sind alle weitern Fortschritte für den Feldkrieg gleichgültig.“
Die Abwegigkeit dieser Einschätzung wird durch den Hinweis deutlich, dass die französische Armee im Todesjahr Friedrich Engels’ eine neue Feldkanone in Dienst stellte. Sie besaß den ersten hydropneumatischen Rohrrücklauf. Damit war es möglich, die Feuergeschwindigkeit der Artillerie zu vervielfachen – eine Innovation, die den Horror des Ersten Weltkrieges wesentlich mit erklärt.
Der Marxschen Lehre nach ist die Basis der Gesellschaft, die Produktionssphäre, etwas Dynamisches, den allgemeinen Entwicklungsprozess Vorantreibendes. Und da die Waffentechnik eine Emanation der Produktionskräfte darstellt, wäre auch sie von dynamischem Fortschritt geprägt. So dürfen wir uns die Frage gestatten: War Friedrich Engels überhaupt Marxist?