20. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2017

Wieder mal Kant

von Stephan Wohanka

Blättchen-Autoren rekurrieren häufig auf Marx. Ich meine, es ist an der Zeit, sich auch wieder auf Kant zu besinnen. Wenn lautstark für eine nationalistisch-identitäre Enge geworben wird, ist daran zu erinnern, dass das Gegenteil, die internationalistisch-kosmopolitische Weite in Kant einen hervorragenden Propagandisten hat.
Eine Minderheit – orientiert man sich am Ergebnis der Bundestagswahl, dann zählte sie hierzulande mindestens um die dreizehn Prozent – der deutschen, aber auch der europäischen Bevölkerung stößt sich an gesellschaftlicher Modernisierung, dem Wandel hin zu Weltoffenheit, Multikulturalismus und Kosmopolitismus, also an den kulturellen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte. Es ist nicht primär wirtschaftliches Abgehängtsein, das diese Menschen verunsichert; es ist vielmehr eine Stimmung, ihr Gefühl, kulturell heimatlos zu sein. Eine Mehrheit teilt den Wandel, eine Minderheit hegt den Wunsch nach der Bewahrung tradierter Werte und Ideale, nach Abgeschlossenheit und einem Staat, der für kulturelle und ethnische Homogenität eintritt.
Für beides zu stehen, ist völlig legitim; jedoch ermuntert die die letztere Herangehensweise bevorzugende politische Praxis nicht unbedingt zur Nachahmung – in den USA klopft ein populistischer „America First“-Präsident große Sprüche, bringt aber über die Spaltung der Nation hinaus kaum etwas zuwege, in Großbritannien entpuppt sich der großmäulig ratifizierte Brexit-Alleingang zunehmend als chaotischer Vorgang und in Polen verstößt die aktuelle Regierung gegen die auch völkerrechtlich gültige Maxim „pacta sunt servanda“ und stört so das internationale Klima…
Vor dem Hintergrund des Rätsel- und Drohwortes Globalität als Sammelbegriff für den kulturellen Wandel kann Kant zur Rätsellösung beitragen, gewinnt sein Denken neue Aktualität: Sein „Republikanismus, die Idee einer globalen Friedensordnung, sein Konzept eines föderalen Zusammenwirkens aller Staaten – das sind große Vorhaben, die wir eigentlich noch nie so nötig hatten wie heute“ (Volker Gerhardt). Dabei kommt nach Kant dem Recht als der „mögliche(n) Vereinigung aller Völker in Absicht auf gewisse allgemeine Gesetze ihres möglichen Verkehrs“ eine zentrale Stellung zu; es kann „weltbürgerlich (ius cosmopoliticum)“ genannt werden. Es ist dies die Basis für eine „Vernunftidee einer friedlichen, wenngleich noch nicht freundschaftlichen, durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden“. Ideal wäre ein „weltbürgerlicher Zustand“ als „der Schoß, worin alle ursprünglichen Anlagen der Menschengattung entwickelt werden“.
Während in den politischen Philosophien eines Platon und Aristoteles, später Hobbes, Locke und Rousseau die Theorie einer internationalen Rechts- und Friedensgemeinschaft fehlt, wird sie von Kant im Entwurf „Zum ewigen Frieden“ virtuos entfaltet. Namentlich in den sogenannten „Definitivartikeln“ behandelt Kant die drei Dimensionen des öffentlichen (Völker)Rechts. Im ersten Artikel sagt er: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staat soll republikanisch sein“. Ich meine, dass hier nach neuerem Begriffsverständnis statt „republikanisch“ „demokratisch“ stehen sollte. Kant selber trifft die Differenz zwar noch; doch was er meint, ist klar: Staaten sollten als Garantie für ein gedeihliches Nebeneinander im Inneren demokratisch verfasst sein. Wie treffend dieser simple Schluss ist, zeigen Staatenbeispiele, in denen die interne Demokratie unter Druck geraten ist und die sich so zugleich als mehr oder weniger große Störenfriede der zwischenstaatlichen Ordnung erweisen – denke ich an die oben schon erwähnten Staaten oder auch Ungarn und andere.
In Artikel 2 heißt es: „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein“. Namentlich dieser Satz hat in Kants rechtsphilosophischen Konzeptionen zum Staatsbürger-, Völker- und Weltbürgerrecht eine kaum zu überschätzende Wirkung entfaltet. Nicht zuletzt gründen Völkerbund und auch dessen Nachfolgeorganisation, die UNO, durch Vermittlung des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson explizit auf Kants „ewigen Frieden“. Artikel 3 schließlich: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein“. Nicht auf Gastrecht hat der Fremde Anspruch; aber auf Besuchsrecht in Zeiten von Not, Elend und Tod. Kant hält also die totale Freizügigkeit für eine unerfüllbare Forderung. So geschrieben in Königsberg, also im Baltikum. Gerade dort und Umgebung könnte dies heute mit Gewinn gelesen werden. Die hierzulande nach strikter Obergrenze verlangenden xenophoben Überfremdungsängste, die die Moral in den Bereich der Zahlen verschieben, verfehlt desgleichen die Hospitalität auf ganzer Linie. Zwar ist es richtig, dass die Machbarkeit eine Grenze markiert; man also nach dem Sittengesetz nur das tun soll, was man auch vermag. Was genau man aber vermag, ist keinesfalls ausgemacht und kann eigentlich nur „gesellschaftlich-praktisch“ beantwortet werden und ist „schwankend“. Wer die „Gefahr für die Demokratie“, etwa aufgrund einer antizipierten Stimmungskatastrophe als Abschiebeargument anführt, hat desgleichen seinen Kant nicht verstanden. Hinzu kommt heute, dass multiethnische respektive multireligiöse Staaten tendenziell eher rechtsstaatlich-liberal verfasst sind, da sie Minderheiten schützen müssen. Ethnisch und/oder religiös homogene Staaten, respektive solche, die sich so verstehen oder so werden wollen, neigen eher zu autokratischen Politikmustern.
Völkerbund und UNO und auch die EU – Kant hat sie also vorweggenommen. Trotz der Widerwärtigkeit der Menschennatur müsse es Staaten gelingen, sich aus wohlverstandenem Eigeninteresse freiwillig einem Bund, einer übergeordneten Instanz des „Rechts“ mit dem Ziel der Friedenswahrung unterzuordnen. Wenn Kant dann „die Vorsehung“ als „Garantie des ewigen Friedens“ heranzieht, fällt es uns Heutigen schwer, ihm da zu folgen. Und als ob ihm die Vorsehung als Friedensgarant selbst nicht ganz ausreiche, stellt ihr Kant am Ende noch eine starke Triebfeder zur Seite: Den Handelsgeist des Menschen, der sich ja nun in der Tat sträubt gegen Embargo, Boykott und Krieg.
Und nicht genug – ganz Philosoph fordert Kant auch noch, dass „die Maximen der Philosophen über die Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens von den zum Kriege gerüsteten Staaten zu Rate gezogen werden (sollen)“. Bescheidener als vor ihm Plato, der den Philosophen die Herrschaft im Staat übertragen wollte, macht Kant dennoch darauf aufmerksam, dass er als einundsiebzigjähriger Autor und Verfasser Großer Kritiken der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft sowie der der Urteilskraft über Weisheiten verfüge, die gehört werden sollten (wenn ein Philosoph von den „Maximen der Philosophen“ spricht, meint er vorzüglich die eigenen).
Auf den Punkt gebracht hat diese Kant in seinem Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“. Er entwickelt darin sein Verständnis der Aufklärung als geistiger Bewegung, die, nicht unumstritten, die gesamte europäische Kultur ergriff und von ihm als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gilt, wobei „Unmündigkeit das Unvermögen (ist), sich seines Verstandes ohne Leitung eines Anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! […] Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; … nämlich die, von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“.
Wohl denn! Vielleicht vermag allseitig praktizierte Vernunft doch zu bewirken, dass soziale Ängste, nationalistische Größenphantasien und kulturelle Fremdheitsempfindungen rationaler bearbeitet werden können als dies im Moment geschieht.