von Klaus Hammer
Die Surrealisten brauchten seine Kunst – diese freie, lyrische Mischung aus Volksmärchen, Erotik, zynischem Humor, Bla-bla, und grotesker Absurdität. Aber er brauchte ihre surrealistischen Theorien nicht. Joan Miró war Katalane, und in seiner Kindheit war Barcelona, die Hauptstadt Kataloniens, einer der Schnittpunkte der Moderne. Als Kunststudent und noch nicht einmal 20 Jahre alt, versuchte er eine klare, energisch geformte Synthese aus dem Kubismus und der fauvistischen, mediterranen Farbpalette eines Henri Matisse herzustellen. Eines seiner schönsten frühen Bilder, „Der Bauernhof“ (1921/22), hat er noch in Spanien begonnen, aber in Paris vollendet. Hier ist die Arche Noah seiner Jugendzeit: Die Vielfalt des Lebens auf dem Bauernhof ist schon die Vorausschau auf das bunte Tierleben in seinen späteren Arbeiten. Es war diese Mutationsfähigkeit des Lebens – alles konnte unter dem Druck einer drängenden, animalischen Vitalität eine andere Form annehmen –, die den Surrealisten Mirós Arbeiten nahebrachte.
Eine bedeutende Werksammlung des katalanischen Künstlers wird jetzt erstmals öffentlich in Portugal gezeigt. Die Geschichte dieser Sammlung ist abenteuerlich genug. Die Mirós wurden zwischen 2000 und 2006 von der portugiesischen Privatbank BPN erworben, doch mit deren Verstaatlichung 2008 ging auch die Miró-Sammlung in die Hände des portugiesischen Staates über. Die Mitte-Rechts-Regierung wollte die Mirós zur Rettung der Staatskassen verwenden und beauftragte 2014 das Londoner Auktionshaus Christie’s, das die Sammlung auf mehr als 30 Millionen Pfund schätzte, mit der Versteigerung. Doch Christie’s sagte auf Grund „juristischer Unsicherheiten“ ab. Tatsächlich waren Opposition und Kulturszene in Portugal gegen das „Verhökern“ der Sammlung Sturm gelaufen. Erst die sozialistische Regierung unter António Costa sagte 2016 zu, dass die Sammlung in Portugal verbleibt und erstmals im Museum für Zeitgenössische Kunst von Serralves in Porto, der Großstadt im Norden Portugals, gezeigt wird. Die Ausstellung, die in Porto mehr als 240.000 Besucher zählte, ist jetzt bis 8. Januar 2018 in erweiterter Form im Ajuda Nationalpalast in Lissabon zu sehen.
Gezeigt werden nicht nur die 85 Werke der Sammlung von 1924 bis 1981 – Zeichnungen, Malerei, Collagen, Wandteppiche, Objektkunst –, sondern auch noch Papierarbeiten aus den 1960er und 1970er Jahren, die bisher unentdeckt geblieben waren. Insgesamt sind das phantasievolle Schöpfungen, entstanden aus Fundstücken oder angeregt durch Alltägliches, unverwechselbar in ihrer scheinbaren Leichtigkeit und spielerischen Anmut. Die Verwandlung der bildnerischen Sprache, die der katalanische Künstler Mitte der 20er Jahre zu entwickeln begann, seine künstlerischen Metamorphosen, sein visuelles Denken, wie er Empfindungen und Eingebungen verarbeitete, die zwischen Taktilität und Optik variieren, seine Schaffensprozesse können im Detail an diesen Arbeiten beobachtet werden. Man kann die Farbe in ihrer Materialität und in ihrer möglichen Bedeutung untersuchen. Offengelegt werden der Malakt, der handwerkliche Eingriff des Künstlers und die visionäre Projektion seiner Zeichen und Figurationen.
Wie in seiner Malerei und Graphik erreichte Miró auch in seiner Bildhauerei und Objektkunst ungewöhnliche Vielfalt und qualitative Dichte. Was er suchte, das war – wie er einmal sagte – „die bewegungslose Bewegung, etwas, das man der Beredsamkeit des Schweigens gleichsetzen könnte“. Die Formen scheinen im Raum zu schweben, und eine bestimmte Farbe oder eine Linie führen dazu, dass sich der Blickwinkel des Betrachters ständig ändert, sich also auch bewegt. Aus immer wieder neu komponierbaren Linien und Farbformen, Zeichen und Symbolen gestaltete Miró Traumbilder wie „Danseuse II“. In Werken wie „Libellule aux ailerons rouges à la poursuite d’un serpent glissant en spirale vers l’etoile-comète“ („Libelle mit roten Flügeln in Verfolgung einer Schlange, die spiralförmig in Richtung des Kometen gleitet“) variierte Miró eine Grundformel seiner Malerei, die er 1940/41 für die Bildserie „Constellations“ (Sternbilder) erfunden hatte. Aus der tragischen Realität des Zweiten Weltkriegs war er in ein Formenrepertoire geflüchtet, das sich auf ein reduziertes Vokabular an Zeichen beschränkt. Seine Universen aus Punkten, Linien, Farbflächen, figurativen Bildzeichen wie Vögel, Schlangen, Schnecken, Leitern, Augen, Sonnen, Monde, Sterne und Frauenkörper und den Farben Rot, Gelb, Blau und Grün in Verbindung mit Schwarz hatten nachhaltig Einfluss auf die amerikanische Malerei und auf das All-over-Prinzip Jackson Pollocks.
Dem Fleck schrieb Miró die Fähigkeit zu, die bildnerische Imagination anzuregen. In der Linie fühlte er sich Paul Klee verbunden. Seine Zeichenwelt erweiterte er um eine kosmische Dimension. Die Verbindung von Punkten durch Linien ist mit einer Sternenkarte vergleichbar. Punkte und Linien werden mit Symbolen kombiniert. Viele Zeichen blicken den Betrachter unmittelbar an, mitunter wie Hilfe suchend, handeln so aus dem Bild heraus, während sie gleichzeitig in einer Handlung im Bild beteiligt sind. Es sind Bilder von melancholischer Traurigkeit bis zur unbeschwerten Heiterkeit.
Was immer er sich dafür in den letzten Jahren der Reife an Ängsten auch vom Leib gemalt hat, er gab ihnen die Farben seiner katalanischen Heimat. Das harte Licht Spaniens blieb hinter den Bergen. Es flutet sonnengelb, lichtblau, mit dem Rot der Kerzen aus den gotischen Kathedralen, palmengrün und marmorweiß. Die Striche bleiben schwarz, frei und schwebend wie eine großzügige Geste, die Flächen wurden monochrom und die Figuren verschwiegen.
In der Keramik setzte er mit seinem Freund Josep Llorens Artigas seine Entdeckungen auf dem Gebiet der Malerei und sehr bald auch der Skulptur fort. Dabei führten Mirós neu erdachte Formen zu unerwarteten, auch vom Zufall bestimmten Ergebnissen. Zufallsfunde trug er in seinem Atelier zusammen, arrangierte sie immer wieder von Neuem, bis sie sich ihm in ihrer wahren Bedeutung offenbarten – und der Bronzeguss ließ aus den zusammengefügten Elementen die Gestalt von Kindern, Frauen, Vögeln oder Haustieren hervortreten. 1972 realisierte er mit dem Weber Josep Royo seine „Sobreteixims“, textile Werke, in denen Tapisserie, Collage und Malerei ineinander übergreifen.
Nicht auf den intellektuellen Diskurs setzte Miró, sondern auf die universelle Sprache seiner Kunst.
Joan Miró. Materialität und Metamorphose. Palacio National da Ajuda, Lissabon, bis 8. Januar 2018. Katalog (portugiesisch und englisch) 29 Euro.
Schlagwörter: Ausstellung, Joan Miró, Katalonien, Kunst, Lissabon