20. Jahrgang | Nummer 19 | 11. September 2017

Bemerkungen

Kurze Notiz zu Petersberg

Petersberg hat alles, was eine kleine, fast schon typische deutsche Gemeinde braucht. Da wäre erst einmal die Legende: Der namensgebende Berg soll die höchste Erhebung zwischen Harz und Ural sein. Was natürlich nicht stimmt, aber da der Berg so klar und weithin sichtbar aus dem sonst flachen Saaletal herausragt, möchte man es schon gern glauben.
Dann die Geschichte, wovon es allerhand in der Gemeinde gibt: Die Stiftskirche St. Petrus fungierte als Grablege der sächsischen Wettiner, im Ortsteil Ostrau steht ein beachtliches Barockwasserschloss und das in Krosigk ursprünglich beheimatete Adelshaus hat zahllose Bischöfe und preußische Generalmajore sowie Hitlers Finanzminister hervorgebracht. Einen Bismarckturm gibt es natürlich auch.
Breite Gutshöfe, Steinbrüche und stillgelegte Braunkohlegruben erinnern an die wirtschaftliche Entwicklung der Gemeinde. Heute wohnen hier größtenteils Altenpfleger und Pendler, die es nach Wettin oder Köthen, Halle oder Leipzig zieht. Neu hergerichtete Bauernhäuser und schnell hochgezogene Wohnparks zeugen von dem ungebrochenen Trend zum Landleben. Hier will keiner ernsthaft nach Berlin.
Ist ja auch alles da: Petersberg liegt gerade so weit nördlich von Halle, dass das Abendprogramm der Großstadt noch einigermaßen bequem genutzt werden kann. Daneben sorgen die vielen Heimat- und Schützenvereine, die Pfingstburschen und die Feuerwehren dafür, dass das Gemeindeleben nicht völlig erlischt. Und so zieht es auch viele Städter an den Wochenenden aufs Land: in den Tierpark, zur Sommerrodelbahn, auf die Trödelmärkte oder in die Steinbrüche, die zum semiprofessionellen Klettern einladen.
Und so sitzt der Besucher im Gasthaus zwischen Kletterparcours und Wolfsgehege, über sich das Kloster auf dem Berg, auf der anderen Straßenseite ein Wandermarkt. Blümchenkaffee im Kaffeepott mit abgekratztem Goldrand. Landbäckerkuchen mit Sprühsahne. Sicheln und Sensen an der Wand. Eigentlich ist alles da. Man könnte glatt glücklich sein. Und trotzdem – man kommt nicht umhin – fühlt es sich so piefig an.

Thomas Zimmermann

SPD – und wieder dem Orkus ein Stück näher

Offenbar gibt es viele Gründe, am 24. September die Kreuze wo auch immer zu setzen – nur nicht bei der SPD. Die taumelt dem ARD-Deutschlandtrend zufolge einem „historischen Debakel“ (Berliner Zeitung) entgegen, denn die Zustimmung zur ehemaligen Partei August Bebels und Willy Brandts ist auf nur noch 21 Prozent-gefallen (Stand 8. September 2017). Selbst mit dem Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier und dem bis dato grottigsten Bundestagswahlabschneiden im Jahre 2009 waren es noch 23 Prozent gewesen.
Der Abwärtstrend hat womöglich auch mit dem Verhältnis der SPD-Führung zu Russland zu tun. Während nach einer Forsa-Umfrage im Juli 83 Prozent der Deutschen gegen die verschärften Sanktionen der USA gegen Moskau waren und während Altkanzler Gerhard Schröder seiner Partei empfahl, einen Wahlkampf gegen die von Angela Merkel zugesagte quasi Verdoppelung der Militärausgaben auf zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (70 Milliarden Euro) und für eine Annäherung an Russland zu führen, macht die SPD – wie Michael Thumann, DIE ZEIT, lobt – „weiter Ostpolitik, aber eine ganz andere“: „Gernot Erler, der große Russland-Kenner der SPD, verurteilt Putins Festungsnationalismus und Russlands innere Radikalisierung. Der SPD-Chefaußenpolitiker Rolf Mützenich warnt vor der russischen Expansion und den Gefahren für den Frieden in Europa. Franz Tönnes, langjähriger Leiter des Russland-Gesprächskreises der SPD, erklärt russischen Politikern und deutschen Putin-Verteidigern das Völkerrecht und warum Russland es mit Füßen tritt. Frank-Walter Steinmeier setzte mit Angela Merkel die Sanktionen gegen Russland um. Sigmar Gabriel, der als Wirtschaftsminister die Ostseepipeline vorantrieb, hat als Außenminister viele überrascht. Gabriel legte sich öffentlich an mit Russlands Außenminister Sergej Lawrow wegen Völkerrechts, Krim-Annexion und russischer Einmischung in deutsche Innenpolitik.“
Und weit und breit kein Willy Brandt in Sicht, kein Egon Bahr. Beide gehörten in den 50er Jahren zu den strammsten der strammen kalten Krieger, hatten spätestens nach dem Mauerbau allerdings begriffen, dass mit Konfrontation kein Blumentopf zu gewinnen, durchaus jedoch ein Dritter Weltkrieg zu riskieren war. Sie entschlossen sich daher zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel …

Gabriele Muthesius

Medien-Mosaik

Zwei abgebrannte Künstler (Faris Rahoma, Aleksandar Petrovic) fühlen sich als echte Wiener, sind dort aufgewachsen und haben darüber schon vergessen, dass sie einen „Migrationshintergrund“ haben. Ein bisschen sieht man es ihnen aber doch noch an, und so nehmen sie nach einigem Zögern das Angebot einer Fernsehreporterin an, in einer Doku-Soap die typischen Klischees zu bedienen. Das ist kurz gefasst die Geschichte der neuen österreichischen Filmkomödie „Die Migrantigen“, Debüt des iranischen Migranten Arman T. Riahi. Immer wieder gibt es neue komische Wendungen, und die Vorurteile über Einwanderer werden kräftig auf die Schippe genommen. In der Schlusssequenz beim unbefugten Eindringen in den Fernsehsender steigert sich das Ganze zu einem olsenbandenähnlichen Coup. Sicherlich gibt es dramaturgische Schwächen, was Logik und Glaubwürdigkeit betrifft. Aber es ist eine Komödie, und die Gastauftritte von Josef Hader als Regisseur und Margarethe Tiesel als sexuell aktive Mutter gehören zu den Höhepunkten, die die Schwächen vergessen lassen. Eine Bühnenfassung der Filmkomödie ist bereits in Vorbereitung.
Die Migrantigen, Regie Arman T. Riahi, Camino Filmverleih, seit 7. September in ausgewählten Kinos.

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Zwei in der Öffentlichkeit gut bekannte ältere Herren wurden im Sommer 80 und 90. Das Geburtstagsgeschenk haben sie sich selbst bereitet – mit einem neuen Buch! Der 90-jährige Entertainer Lutz Jahoda (der dieser Tage zum Ehrenmitglied der Europäischen Kulturwerkstatt ernannt wird) ist gerade im neuen Jahrtausend auch als Schriftsteller hervorgetreten. Besonders seine Romantrilogie „Der Irrtum“ zeugt von einer aus Lebenserfahrung gespeisten Durchdringung europäischer Geschichte, wie sie eines F.C. Weiskopf würdig wäre. Das neue Buch „Lustig ist anders“ ist trotz des populären Titels durchaus kein Schritt zurück. Es enthält überwiegend Kurzessays zu politischen Fragen, zum Zeitgeist, zu sozialen Problemen, die Jahoda durchaus mit trockener Ironie behandelt, wobei er sich als Antifaschist und Antikapitalist erweist. Er ordnet die Rolle verschiedener Politiker der jüngeren Vergangenheit zur heutigen Weltlage ein und versucht, die nachwendlichen Geschichtsfälschungen geradezurücken. Dazwischen findet sich sogenannte Gebrauchslyrik, politische Poesie, oft in Knittelversen – wie zum BND: „Gehlen ist zwar längst verstorben, doch der Ruf, der bleibt verdorben!“
Dazu passen die Bilder des zweiten Jubilars. Karikaturist Reiner Schwalme ist nun 80, hat aber nichts von seinem scharfen Witz verloren. Er steuert fast 100 teils ganzseitige, meist farbige Illustrationen und politische Witzblätter bei, wie das eines darbenden Flüchtlings, der von der Merkel träumt, die ein Füllhorn über ihm ausschüttet. Oder: Der deutsche Michel kommt zur Kartenlegerin mit der Frage: „Ich möchte gern wissen, was ich wählen werde!“ Zur Wahlentscheidung kann dieses Buch auf jeden Fall hilfreich sein!
Lutz Jahoda / Reiner Schwalme: Lustig ist anders. Books on Demand, Norderstedt 2017, 448 Seiten, Kindle Edition 9,99 Euro, Soft-Cover-Buch 26,99 Euro.

bebe

Kunst, Kunst, Kunst – und das Publikum

Wichtiger als ein Kunstwerk selbst ist seine Wirkung. Kunst kann vergehen, ein Bild zerstört werden. Was zählt, ist die Saat.
Joan Miró

Es ist nicht wahr, was man gewöhnlich behaupten hört, dass das Publikum die Kunst herabzieht; der Künstler zieht die Kunst herab, und zu allen Zeiten, wo die Kunst verfiel, ist sie durch die Künstler gefallen. Das Publikum braucht nichts als Empfänglichkeit, und diese besitzt es. Es tritt vor den Vorhang mit einem unbestimmten Verlangen, mit einem vielseitigen Vermögen. Zu dem Höchsten bringt es eine Fähigkeit mit; es erfreut sich an dem Verständigen und Rechten, und wenn es damit angefangen hat, sich mit dem Schlechten zu begnügen, so wird es zuverlässig damit aufhören, das Vortreffliche zu fordern, wenn man es ihm erst gegeben hat.
Friedrich Schiller
Vorrede zur „Braut von Messina“

Filmkritiker haben die wichtige Aufgabe, dem Publikum zu erklären, warum es einen Film niemals verstehen wird.
René Clair

Jede Filmkritik müsste eigentlich so anfangen: „Der vorliegende Film enthält als maßgebliches Element die Kunstanschauungen eines zweiundsechzigjährigen Stiftfräuleins, zweier kunstfremder Oberregierungsräte und eines schwunglosen Malers. Auf deren Zensur hin ist der Film gemacht worden.“
Peter Panter

Wer dem Publikum hinterherläuft, sieht doch nur dessen Hinterteil.
Johann Wolfgang von Goethe

Die Kunst ist hinsichtlich ihrer Wirkungen so unbekümmert wie die Natur, und selbst wenn einmal ein großes Kunstwerk geschaffen würde, von so ungeheurer sexueller Reizkraft, dass eine Flutwelle von Sinnlichkeit sich über die gesamte Menschheit ergösse, so wäre das ebensowenig Anlass, die Ausstellung, die Weiterverbreitung zu verbieten, wie bisher behördlicherseits der Versuch gewagt worden ist, die körperliche Schönheit zu untersagen.
Arthur Schnitzler

Das Publikum klatscht doch nicht, weil ein Lied besonders gut ist, sondern weil es ein Lied bereits kennt. Es beklatscht sein eigenes Gedächtnis
Max Goldt

Alfred, der / Kunstradfahrer / hat einen Hund / überfahren.
Kunst, knirscht er / und reibt sich das Knie, / ist eben / Waffe.
Jens Sparschuh

Aufgabe von Kunst ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.
Theodor W. Adorno

Nur wenn die Kunst der Wirklichkeit widerspricht, hat sie etwas zu sagen.
Gerhard Branstner

Die Wissenschaft zerlegt den Lichtstrahl, die Kunst vereint die zerstreuten Farben von neuem.
Emil Edel

Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt.
Pablo Picasso

gefunden von bebe

Blätter aktuell

Wie einst zu Zeiten des Kalten Krieges stehen sich vor Chinas Küste derzeit die Streitkräfte der USA und Chinas gegenüber. Eine Eskalation dieser Rivalität birgt unabsehbare Gefahren für den gesamten westpazifischen Raum und die Vereinigten Staaten, warnt der amerikanische Diplomat Chas W. Freeman. Die USA müssen sich daher fragen, ob sie an ihrem globalen Vormachtanspruch festhalten wollen, der China langfristig zu ihrem Todfeind macht.
Der Widerstand gegen Donald Trumps Antiintellektualismus, seine Fremdenfeindlichkeit und seine Lügen formiert sich – weit über die USA hinaus. Die kanadische Publizistin Naomi Klein zeigt auf, unter welchen Bedingungen der politische Widerstand gegen Trump erfolgreich sein kann. Entscheidend ist dabei – auch als Lehre aus dem Finanzcrash 2008 – ein neues utopisches Denken jenseits des neoliberalen Kapitalismus.
Bei den jüngsten Wahlen in der EU obsiegten proeuropäische Parteien. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass andernorts EU- und euroskeptische Parteien weiterhin auf dem Vormarsch sind, betonen der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske und Klaus Busch, Professor für Europäische Studien. Verantwortlich hierfür ist nicht zuletzt die anhaltende Austeritätspolitik, die vor allem südeuropäischen Staaten auferlegt wurde. Eine gesamteuropäische Kurswende ist daher dringend geboten.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: Die Vergötzung des Marktes“, „Chavismo critico: Die Zukunft Venezuelas?“ und „Kolumbien: Von der Guerilla zur Partei?“
Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, September 2017, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.

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WeltTrends aktuell

Im Schwerpunkt geht es um eine (Zwischen-)Bilanz der Außenpolitik von Angela Merkel.
Ist die Außenpolitik der Kanzlerin die einer Großmacht? Zwölf Jahre steht sie an der Spitze Deutschlands, das nach 1990 unaufhaltsam zur europäischen Führungsmacht mit globalen Ambitionen aufstieg. „Mehr Verantwortung“ wurde zum Schlagwort für ein neues außenpolitisches Verständnis in Teilen der politischen Klasse.
In der realen Außenpolitik bewegt sich der Merkelismus zwischen erneuertem Vasallentum gegenüber den USA (Russland), eigenständigem Handeln (China) und kompromissloser Interessendurchsetzung (Griechenland).
Wie hältst du es mit der NATO? Dies ist eine weitere Gretchenfrage der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, auch für die Linke. Für sie sei der Norantlantikpakt „ein rotes Tuch mit weißer Kompassrose“, meint Wolfram Wallraf im WeltBlick. Er unterbreitet konkrete Vorschläge für eine „linke NATO-Politik“.
Im Forum setzen sich Experten kontrovers mit dem Plädoyer des verteidigungspolitischen Sprechers der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Arnold, zugunsten einer Europäischen Verteidigungsunion im WeltTrends-Augustheft auseinander.
WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 131 (September) 2017 (Schwerpunktthema: „Außenpolitik im Zeichen der Raute“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

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Aus anderen Quellen

„Eine außergewöhnliche neue Pentagon-Studie […] ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete, von den USA dominierte Weltordnung ‚zerfallen‘ und sogar ‚zusammenbrechen‘ könnte, wodurch die USA ihre globale ‚Vorrangstellung‘ verlieren würden“, schreibt Nafeez Ahmed. Als Gegenmaßnahmen empfehle die Studie „[…] noch mehr Überwachung, noch mehr Propaganda durch die ‚strategische Manipulation von Wahrnehmungen‘ und eine nochmals ausgeweitete militärische Expansionspolitik.“ Titel der Studie: „At Our Own Peril: DOD-Risk Assessment in a Post Primacy World“, Die uns drohende Gefahr: Risikoeinschätzung des Verteidigungsministeriums für eine Welt ohne US-Vorrangstellung […]“.
Nafeez Ahmed: Pentagon study declares American empire is ‘collapsing’, Insurge Intelligence, July 17, 2017. Zum Volltext hier klicken. Zur deutschen Übersetzung hier klicken.
Nathan P. Freier et al.: At Our Own Peril: DoD Risk Assessment in a Post-Primacy World, U.S. Army War College. Strategic Studies Institute. Publications, June 29, 2017. Zum Volltext hier klicken.

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„Schon sehr bald werden Roboter mit künstlicher Intelligenz in der Lage sein, Aufgaben zu übernehmen, die für uns Menschen zu gefährlich, zu langweilig oder zu schwierig sind. Aber es gibt einen Bereich, in dem gesetzlich geregelt werden muss, wieviel Kontrolle wir an die Maschinen abgeben: tödliche autonome Waffen (lethal autonomous weapons, LAWS). Es geht dabei um Waffensysteme, die keiner menschlichen Kontrolle mehr unterliegen. Bereits heute werden diese Waffen in aller Welt entwickelt – darunter von Staaten wie China, Großbritannien, Israel, USA oder Russland und sogar von Privatarmeen“, beginnt Jennifer Baker ihren Beitrag. Sie warnt: „Aber – und dies ist von entscheidender Bedeutung: Mit autonomen Waffen wird die Entscheidung, jemanden zu töten, prinzipiell an eine Maschine abgegeben. Wollen wir das wirklich? Eine solche Entwicklung ist nicht dasselbe wie unserem vernetzten Kühlschrank zu erlauben, frische Milch nachzubestellen.“ Die Autorin plädiert für internationale völkerrechtliche Regelungen, weil „die Herstellung tödlicher autonomer Waffen […] sich nicht aufhalten lassen“ wird.
Jennifer Baker: Die Killerroboter sind auf dem Vormarsch. Wollen wir tatsächlich Maschinen die Entscheidung über das Töten überlassen?, Internationale Politik und Gesellschaft (IPG), 29.08.2017. Zum Volltext hier klicken.

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Seit Jahren redet die Bundespolitik – vor allem in Gestalt des Verkehrs-, des Finanz- und des Wirtschaftsministeriums – der Öffentlichkeit ein, die Zukunft der deutschen Autobahnen läge in ihrer Privatisierung. In Gestalt sogenannter Öffentlich-Privater Partnerschaft (ÖPP): Privatunternehmen bauen und betreiben Autobahnstrecken, finanziert durch private Banken, und spielen die Kosten (sowie Gewinn) über die LKW-Maut wieder ein. Das spare dem Steuerzahler Milliarden.
Als Pilotprojekt gilt dabei bis dato ein 72,5 Kilometer langes Teilstück der A1 zwischen Hamburg und Bremen – angelegt auf 30 Jahre, betrieben von einem Konsortium A1 Mobil, geführt von den Unternehmen Bilfinger, John Laing und Johann Bunte, sowie finanziert durch die Unicredit Bank AG und weitere Geldhäuser.
Jetzt enthüllte Kai Schlieter, dass A1 Mobil praktisch vor der Pleite steht. „Denn das unterstellte Verkehrswachstum, das die Einnahmen aus der Lkw-Maut in die Konzernkassen spülen sollte, blieb einfach aus.“ Im Gefolge der Finanzkrise von 2007.
Nun der Paukenschlag: „Am 21. August verklagt das Konsortium A1 Mobil die Bundesrepublik Deutschland vor dem Amtsgericht Hannover. Streitwert: 645.445.000 Euro.“ Als Schadenersatz für entgangene Mautgebühren. Insgesamt gar „drohen dem Bund Belastungen bis zu einer Höhe von 1,3 Milliarden Euro“ wegen der möglichen Insolvenz von A1 Mobil.
Als wäre das nicht Skandal genug: Bereits seit 2013 sei die Sachlage Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) bekannt, würden Krisengespräche mit Betreibern und Banken geführt, sei der Bundestag aber mit keinem Wort unterrichtet und die Autobahnprivatisierungspolitik vielmehr mit Verve fortgeführt worden. Insbesondere mit der von den eingangs genannten Ministerien gemeinsam betriebenen Gründung einer sogenannten Infrastrukturgesellschaft: „Eine GmbH, die nicht mehr föderal, sondern zentral vom Bund aus die Bewirtschaftung der Autobahnen steuert. Eine ÖPP-Maschine, sagen Experten.“ Und die SPD ist über das von ihr geführte Bundeswirtschaftsministerium aktiv mitbeteiligt, obwohl starke Indizien dafür sprechen, dass die Parteispitze ebenfalls bereits seit 2013 volle Kenntnis vom drohenden A1 Mobil-Debakel hatte.
Der Bundesrechnungshof, so Schlieter, habe im Übrigen bei fünf von sechs geprüften ÖPP-Autobahnprojekten Preissteigerungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro ermittelt. Dazu Simone Peter, Parteichefin der Grünen: „[…] letztlich sind es immer die Steuerzahler, die bei ÖPP-Projekten die Zeche zahlen.“
Kai Schlieter: Dobrindts Autobahn-Desaster: So kämpft das A1-Konsortium gegen Deutschland, Berliner Zeitung (online), 25.08.2017. Zum Volltext hier klicken.
Derselbe: A1-Privatisierungs-Desaster: Politiker fordern Alexander Dobrindt zum Rücktritt auf,
Berliner Zeitung (online), 27.08.2017. Zum Volltext hier klicken.
Derselbe: A1-Privatisierungs-Skandal. Die Gier des Finanz-Zombies,
Berliner Zeitung (online), 28.08.2017. Zum Volltext hier klicken.
Derselbe: Autobahn-Privatisierung: Wusste die SPD vom A1-Desaster?,
Berliner Zeitung (online), 30.08.2017. Zum Volltext hier klicken.