20. Jahrgang | Nummer 19 | 11. September 2017

Aber wir sind noch hier …

von Margit van Ham

Ich sitze im National Museum of the American Indian in Washington D.C. vor einem Monitor, der kleine Filme über die Entstehung der Welt der Indianer zeigt. Die Geschichte von Ojishonda zum Beispiel, der jede Nacht über den Himmel schreitet, um dort Sterne zu verteilen. Als Ojishonda einmal sehr müde war und einschlief, sah das der Fuchs und lief mit dem Sternensack davon. Die Sterne fielen aus dem Sack und verteilten sich über den gesamten Himmel. Als Ojishonda aufwachte, wollte er es nicht glauben. Nun läuft er jede Nacht zu den Sternen, um sie nacheinander anzuzünden …
Dieser Ausflug in die Kultur der Indianer bietet eine Atempause von der unerbittlichen Geschichte der Indianer, die ringsherum gezeigt wird. So bekannt die grundsätzlichen Fakten auch sind – die Konfrontation mit der Geschichte ihres Niedergangs, ja der Vernichtung ihrer alten Welt ist bedrückend.
Es scheint, als ob die auffällige Schönheit des Gebäudes der Smithsonian Institution im Zentrum von Washington, das plätschernde Wasser ringsum, seine wunderbare Gestaltung, die die spirituellen Vorstellungen der Indianerwelt aufgreift, dem Grauen der Geschichte etwas nehmen soll. Auf großen Tafeln wird dokumentiert, wie den Indianern Nordamerikas ihr Land entrissen wurde, ihre Lebensgrundlagen und schließlich ihre Sprache und und ihre Kultur. Die Beispiele einer großartigen Kultur zeigen den Verlust. Und mir klingt ein Filmbeitrag in den Ohren, der am Schluss versucht, optimistisch zu sein. „Aber wir sind noch hier …“
Das „weiße“ Amerika hat viele Schrecken mit sich gebracht. Der Gedanke, dass es europäische Einwanderer waren, die in Massen ankamen und zur Erfüllung ihrer Wünsche auf ein besseres Leben entschlossen über die Indianerstämme hinweg rollten, ist unbequem und lässt eventuelle überhebliche Gedanken des Europäers in sich zusammenfallen.
Das Museum stellt die Geschichte einzelner Stämme vor. Und ihre Begegnung mit der neuen Welt. Der Häuptling der Omaha-Indianer Big Elk hatte 1837 Washington D.C. besucht und war schockiert von der schieren Zahl der Weißen und ihrem Lebensstil: „Ich bringe euch Nachrichten, die mein Herz traurig machen […] Bald wird uns eine Flut erreichen, und ich rate euch, darauf vorbereitet zu sein. Bald werden die Tiere, die Wakonda uns als Nahrung gab, in dieser Flut verschwinden und nicht zurückkehren […] Ich sage euch das, damit ihr vorbereitet seid für den kommenden Wandel.“
Anpassen oder untergehen. Man versuchte, in Verhandlungen mit den Weißen, Rahmenbedingungen für künftiges Leben zu finden. Aber – und das zeigen die Dokumente über die Verträge zwischen Indianerstämmen und der USA-Regierung – jede Seite verstand etwas anderes unter den Formulierungen und die stärkere Seite fühlte sich ohnehin frei, die Verträge jederzeit zu brechen.
Die Stämme waren sich zudem uneinig über den Umgang mit der Regierung, einige kämpften, einige – so zum Beispiel der Großteil der Omaha-Indianer – versuchten sich weitgehend anzupassen, übernahmen auch die christliche Religion. Aber auch sie wurden in Reservate abgeschoben. Krankheiten wie Pocken und TBC dezimierten die Zahl der Indianer. Und Alkohol wurde zum Dauerproblem vieler Überlebender.
Fotos und Lebensgeschichten einzelner Indianer zeigen auch die langjährig durchgesetzte Assimilationspraxis seitens der Regierung: Kinder wurden aus den Familien gerissen, in Internate gesteckt. Sie durften weder ihre Sprache sprechen noch ihre Lieder singen oder tanzen. Man nahm ihnen ihre Identität und die Würde. Bilder zeigen Jungen, denen ihre Zöpfe abgeschnitten wurden – ein kleines Detail der Demütigung. Das Ergebnis dieser Praxis wird heute in den Nachrichten beklagt: Betrunkene Indianer, die auf den Straßen amerikanischer Städte rings um Indianerreservate (dort ist Alkoholverkauf nicht gestattet) zu sehen sind.
Die Geschichte des Häuptlings Standing Bear – bei uns vielleicht nicht so bekannt wie die von Sitting Bull oder Crazy Horse – ist von besonderer Bedeutung in der Geschichte der USA. Und sie setzt am Ende eines der wenigen positiven Beispiele. Trotz zweier gültiger Verträge sollten die Ponca, Nachbarn der Omaha, ihre angestammte Heimat in Nebraska verlassen und in ein neues Reservat ziehen. Häuptling Standing Bear weigerte sich, aber er wurde in Ketten gelegt und man schnitt mitten im Winter die rund 700 friedlichen Ponca von Wasser und Nahrung ab. Als Standing Bear hörte, dass seine Ponca dem Hungertod nahe waren, gab er nach. Die Ponca wurden vom Militär auf einen langen Marsch geschickt. Sie erreichten die Oklahoma-Region im Juli 1877. Innerhalb eines Jahres starben ein Drittel der Vertriebenen, meist an Malaria. Als Standing Bears 14-jähriger Sohn im Sterben lag, nahm er seinem Vater das Versprechen ab, ihn im Heimatboden zu begraben. So marschierte er mit 29 Stammesmitgliedern zurück nach Nebraska. 62 Tage in bitterer Kälte, nur um sofort wieder festgenommen zu werden. Der kommandierende General hatte aber Mitleid und informierte einen Journalisten, der über das Leid des Vaters berichtete, der seinen Sohn nicht begraben durfte.
Eine öffentliche Kampagne begann, die die „Wilden“ als fühlende Menschen zeigte und viele Weiße beeindruckte. In ihrem Verlauf verklagten zwei bekannte Rechtsanwälte die Regierung. Es war einer der ersten Bürgerrechtsfälle der USA. Der Prozess sollte klären, ob die Regierung das Recht hatte, Standing Bear einzukerkern und ob er durch die Verfassung geschützt wäre. Der Standpunkt der Regierung: Indianer seien nicht Bürger der USA, demzufolge auch nicht durch die Verfassung geschützt. (Sie bezog sich auch auf ein Urteil von 1857, wonach kein Schwarzer jemals Bürger der USA werden könne. Er sei Eigentum, und Eigentum sei zu respektieren …) Der Richter erlaubte erstmals, Standing Bear selbst sprechen zu lassen. Meine Hand hat eine andere Farbe als Ihre, sagte er, aber sie spürt Schmerz und sie blutet in der gleichen Farbe wie Ihr Blut. „Ich bin ein Mensch. Der gleiche Gott hat uns beide geschaffen.“
Das Urteil des Richters war ein Meilenstein: Ein Indianer sei eine Person im Sinne des Rechts, mit den gleichen Rechten für Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück wie die weiße Rasse. Am Schicksal der meisten Indianer änderte sich nicht viel, aber die Rechtsprechung wies eine neue Richtung und beflügelte die Bürgerrechtsbewegung.
Das alles ist erst 140 Jahre her.