20. Jahrgang | Nummer 16 | 31. Juli 2017

Querbeet 100

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Zwergstaat, der Großkrach macht, und ein genialer Sprechsteller mit seiner Lebensweisheit „zwischen A und O“…

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Eine uraltlinke Utopie: Die schlaue Köchin macht den Staat; ab sofort wird „von unten“ regiert. Die umstürzlerisch politische Fantasie hat freilich jede Menge grotesk-kabarettistisches Potenzial. Thomas Lienenlüke packte es mit könnerischem Griff und erfand für das traditionsreiche Kabarett-Theater „Die Distel“ die – um es gleich zu sagen – hoch komische Kabarett-Komödie „Zwei Zimmer, Küche, Staat“.
Also wieder ein Erfolg für das sage und schreibe schon ein reichlich Halbjahrhundert existierende Spaß-und-Schimpf-Institut im historischen Admiralspalast am Bahnhof Friedrichstraße in Berlin – eine schier unkaputtbare Institution, die (hoch subventioniert, scharf kontrolliert) erst das SED-Regime überlebte und zuweilen austrickste, dann die „Wende“ und jetzt (von staatlicher Stütze unberührt) als Publikumsmagnet präsent ist wie zu allen Zeiten. Auch das spricht für die Wendigkeit, für den Bums oder, um im Bilde zu bleiben, für die geschätzte, gelegentlich auch geschmähte Kratzbürstigkeit der „Distel“.
Doch zurück zu Thomas Lienenlüke. Der Mann ist ein alter Hase im Drehbuchschreiben für TV-Shows beispielsweise mit Rudi Carrell, Harald Schmidt, Jürgen von der Lippe, Ingo Appelt oder Dieter Hallervorden. Und ist obendrein erfahren als Autor von „Scheibenwischer“ und „Satiregipfel“. Er kann eine prima verrückte Story erfinden und verfügt über die nötige Kraft und Fantasie, Wortwitz am laufenden Band zu produzieren sowie immer wieder Gag-Kaskaden abzufeuern.
Zur Story in Stichworten: Nahe der Friedrichstraße liegt die Dorotheenstraße und dort die Wohnung der unfroh aufs kurz bevorstehende Rentnerdasein starrenden Margie Plenzkow (Dagmar Jaeger). Weil: ihre Kassenlage ist prekär und wird absehbar nur noch prekärer werden. Und Sohn Kevin (Rüdiger Rudolph), Mitte vierzig, ist ‑ wie ihr halbseidener Untermieter (Michael Nitzel) ‑ auch keine Hilfe, hastet emsig aber ertraglos immer nur von Praktikum zu Praktikum. Also muss was geschehen, finden die drei in ihren zwei Zimmern plus Küche in der Dorotheenstraße und erinnern sich an früher. Was vor zwanzig Jahren die Ich-AG war, ist heute der eigene Staat. Also gründen sie einen und werden alsbald zum Hotspot ihrer Kumpels aus der Stammkneipe sowie aller Arten Transfer-Empfänger, Hochstapler, Geschäftlhuber, Populisten, Euroskeptiker, Spekulanten und natürlich Politiker – auch Donald Trump kommt vor und natürlich die sowohl besorgte als auch irritierte Kanzlerin.
Was für eine Steilvorlage für Parodien; was für eine fantastische Kostümshow im fliegenden Wechsel (Hannah Hamburger); was für eine groteske Geschichte mit scharfen Stichen ins Hochpolitische, aber auch mit Momenten, die innehalten im Lärm und im Trubel und die – ja doch – still ergreifen. Regie: Dominik Paetzholdt.
Und last but not least: Was für eine brillante Besetzung! Alle drei Schauspieler sind super Entertainer, klasse Komiker (und mithin zünftige Rampensäue), haben Rhythmus in den Knochen sowie Singsang in der Kehle. Schließlich sorgen Matthias Felix Lauschus und Fred Symann an ihren Instrumenten für ordentlich Musike. An dem völlig verrückten Abend in der als „Freie Republik Dorotheanien“ firmierenden Kleinwohnung geht die Post ab, gellen Wahn-, Tief- und Blödsinn, kocht die Show, lacht das Herz, bekommt der Grips sein Fressen. Was will man mehr.

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DDR und Satire, da mögen viele sich fragen: Wie kann das zusammen gehen? Es ging eigentlich nicht; eigentlich. Und doch kam Satire vor, wenn auch nicht selten dem „System“ abgerungen oder untergejubelt. Einerseits. Anderseits war der SED-Staat emsig bemüht, für ein ordentliches Maß an Frohsinn und Unterhaltung zu sorgen, um die sozialistische Menschengemeinschaft bei Laune zu halten. Obendrein war Satire geeignet als Ventil zum Ablassen von Druck, der sich immer wieder anstaute gegen obrigkeitsstaatliche Zumutungen.
Einer der bekanntesten DDR-Satiriker war Hansgeorg Stengel, geboren am 30. Juli 1922 im Residenzstädtchen Greiz. Der Mann erlaubte sich, um es etwas despektierlich zu sagen, die Pointe, just am 30. Juli 2003, zu sterben. Doch sind es weit mehr als diese Daten, an jenen seinerzeit wahnsinnig berühmten tollen Hecht in Dankbarkeit zu erinnern, der – inzwischen längst ein Berliner ‑ an seinem 81. Geburtstag von uns ging.
Es war Anfang der achtziger Jahre, Studentenklub Technische Hochschule Ilmenau: Auftritt von Stengel. Man schob ihm einen Stuhl hin, er lehnte ab und fragte todernst: „Welcher Satiriker sitzt schon gern?“ Krachendes Kichern. ‑ Dann seine Geschichte mit Goethe, der es schwer hat in der DDR und als Junglyriker scheitert. Denn keine der SED-Gazetten will „Wanderers Nachtlied“ drucken; das Bald-ruhest-du-auch sei viel zu pessimistisch. So weint er denn bitterlich und versucht es als unverbesserlicher Optimist bei der DEFA als Drehbuchautor… – So ging, hier kurz gefasst in der Erinnerung, ein Stengel-Text mit der feinen Anspielung auf Zensur sowie dem frechen Verweis aufs 11. SED-Plenum, das Jahre zuvor DEFA-Filme gleich im Dutzend verboten hatte. Grinsend brachte der Autor mit wenigen Zeilen den ganzen herrschenden Staatsgeist auf den bösen Punkt.
Stengel, der lange Lulatsch aus Thüringen, war im Osten bekannt wie ein bunter, aber scharfer Hund. Nicht nur wegen seiner Satiren, auch wegen seiner Kinderbücher (er erfand einen sozialistischen Struwwelpeter) und wegen seiner Sprachkritiken (er nannte sich „Sprechsteller“). Die Zeitschrift Eulenspiegel, der man vornehmlich mit Beziehungen am Kiosk habhaft wurde, war seine mal kühne, mal erschreckend zwangskonforme Hauspostille. Er schrieb dutzende Bücher („Unschuldsstengel“, „Stengelsgeduld“, „Mit Stengelszungen“), verkauft wurden einige Millionen Exemplare. Es ging ihm stets flott vom Hirn in die Hand. Mit Tucholsky und Ringelnatz konnte er durchaus gleichziehen. Sitzen musste er – bei aller ausgetüftelt aufmüpfigen Spitzzüngigkeit – nie. Er genoss Narrenfreiheit bei den wachsamen wie klammheimlich generösen Genossen, die es eben auch gab. – Übrigens: Wie Schopenhauer war Stengel ein begeisterter Rückwärtsleser. Seine Sammlung Palindrome „Annasusanna“ (1984) gilt als Klassiker. Kostprobe: „O du relativ vitaler Udo.“

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Zwischen A und O

von Hansgeorg Stengel

Da wird man also irgendwann geboren
und irgendwo aufs Lebensgleis gestellt
so unabweisbar, wie es den Autoren
des Kinds, das heißt dem Elternpaar gefällt.

Ein solcher Auftakt dünkt mich problematisch,
und es befremdet jedes Menschenkind,
dass Zeugung und Geburt nicht demokratisch
und fair mit jenem abgesprochen sind.

Wer räsoniert, entrüstet sich vergebens,
denn längst entschied das Oberste Gericht:
Der Mensch ist zwar Gestalter seines Lebens,
doch über Nest und Start bestimmt er nicht.

Und wie der Anfang, findet auch im Grunde
das Ende ohne Mitbestimmung statt.
Fatal ist, dass auf seine Sterbestunde
der Mensch verteufelt wenig Einfluss hat.

Dir bleibt indessen Zeit, dich zu vollenden.
Drum leg noch einen Zahn zum Leben zu.
Geburt und Tod sind schwerlich abzuwenden,
doch was dazwischen liegt, bestimmst nur du.

(Aus: Hansgeorg Stengel: Dicht an dicht: sämtliche Gedichte, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2002, 288 Seiten, 14,90 Euro.)

In diesem Sinne: Ein Prost auf Meister Stengel, auf dieses, mein 100. Querbeet, und auf die gute Hoffnung für uns alle, noch einen Zahn zum Leben zuzulegen…