20. Jahrgang | Nummer 14 | 3. Juli 2017

Das Anschneiden des Kuchens – oder: Aus dem Alltag im NATO-Hauptquartier

von Alfons Markuske

Günther K. Weiße, der Autor des vorliegenden Buches über das militärische Nachrichtenwesen im Supreme Headquarters Allied Powers Europe (Shape), dem NATO-Hauptquartier Europa (gelegen im belgischen Mons) während der letzten fünf Jahre des Kalten Krieges, war dorthin als Bundeswehrangehöriger im Range eines Oberleutnants und Spezialist für Fernmeldeaufklärung abgeordnet und also selbst Shapianer, wie sich die dort zeitweise Ortsansässigen mit dem ihnen eigenen Korpsgeist nennen.
Weißes Schrift basiert, wie er in seiner Einführung vermerkt, „vorwiegend auf eigenen Erfahrungen […] vor Ort zur damaligen Zeit, frei zugänglichen Quellen sowie Informationen damals Beteiligter“. Ob er mit diesen Einschränkungen und seiner zusätzlichen einleitenden Erklärung, dass es „nicht die Absicht des Autors“ sei, „ein Werk mit quellenkritischem, wissenschaftlichen Anspruch oder eine militärpolitische Analyse vorzulegen“, sondern lediglich die „historische Reminiszenz eines überaus interessanten Zeitabschnitts“, nicht etwas tiefgestapelt hat, mag dem Urteil des Lesers anheimgestellt sein. Weißes über 800 Quellenangaben und Anmerkungen übersteigen das übliche Maß in heutigen zeitgeschichtlichen Darstellungen jedenfalls merklich.
Dass Weiße wiederholt Launiges einstreut, gibt seiner Darstellung zwar hin und wieder einen Touch von Boulevard, mindert die Ersthaftigkeit seiner Ausführungen jedoch insgesamt mitnichten. So erfährt man halt en passant auch:

  • dass eine „allgemeine militärische Grußpflicht“ im NATO-Hauptquartier zur Aufenthaltszeit des Autors zwar nicht bestand, „gleichwohl es […] außer Frage stand, einen vorbeieilenden General […] durchaus unterschiedlicher Nationalität […] militärisch zu grüßen“;
  • dass man im Friseursalon von Shape durchaus SACEUR, dem NATO-Oberbefehlshaber, begegnen konnte, wobei es selbstverständlich war, „diesem […] den Vortritt zu lassen“;
  • dass es bei Dienstreisen nach Norwegen ratsam war, „mindestens ein Gastgeschenk in Form von ‚steuerbefreitem Whisky‘ mitzuführen“; quasi im Gegenzug gab es dort dann stets „einen Offizier, der neben seinen eigentlichen Aufgaben den Verkauf von Räucherlachs übernommen hatte“;
  • und dass ein britischer Oberst anlässlich seiner Pensionierung schon mal „auf einer britischen Kanone aus dem ersten Weltkrieg sitzend […] in sein Quartier […] verbracht“ wurde – vorbei an einer Ehrenformation und unter Hornsignalen;

„Unvergesslich […] auch das Anschneiden des Kuchens mit einem Degen durch einen General des US-Marinekorps […].“
Wer die letztgenannten Events bereits für krass oder gar leicht morbide hält, hat mit einiger Sicherheit nicht Heiner Müllers „Macbeth“ in der Inszenierung an der Berliner Volksbühne Anfang der 1980er Jahre gesehen, in der die gedungenen Mörder als Zeichen ihrer Tat das abgeschnittene Glied des Opfers präsentierten, gut sichtbar zwar, aber gottseidank nur in Gestalt einer formidablen Bockwurst. Einer der Meuchler kommentierte gegenüber dem darob denn doch geschockten Auftrag- und Namensgeber des Stückes (sinngemäß, nach der Erinnerung des Rezensenten): „Jeder Berufsstand, Sire, hat seinen eignen Witz.“ Und Shepianer ist wahrscheinlich auch ein solcher. Also ein Berufsstand.
An ernsthafteren Inhalten bietet Weiße unter anderem einen Überblick über die Stay-Behind-Organisationen der NATO bis 1990, auch bekannt unter dem Alias „Gladio“. Bereits seit Anfang der 1950er Jahre war auf amerikanische Initiative hin mit der geheimen Rekrutierung von Manpower und mit der Anlage von Waffen- und Ausrüstungsdepots für den Fall einer sowjetischen Invasion begonnen worden. Diese Kräfte sollten im Falle des Falles „den Kampf gegen den Aggressor aufnehmen, Nachrichten gewinnen, Sabotage-Operationen durchführen“, wie Weiße schreibt. Entsprechende Strukturen wurden nicht nur in sämtlichen westeuropäischen NATO-Staaten aufgebaut, sondern auch in Österreich, Schweden, Spanien, Finnland, in der Schweiz und auf Zypern – teils mit (mindestens) stillschweigender Duldung durch nationale Stellen, teils auch ohne deren Kenntnis.
In einigen Ländern kam später der Verdacht auf, dass diese Strukturen in mehr oder weniger unmittelbarem Zusammenhang mit spektakulären Terrorakten und Kriminalfällen standen. Weiße führt die Sprengstoffanschläge gegen Strommasten in Luxemburg zwischen 1981 und 1983 sowie die „Tueurs du Brabant“ an, „eine Reihe von zum Teil blutigen Überfällen auf Supermärkte, Geldtransporter und Waffengeschäfte“, die von 1982 bis 1985 Belgien erschütterte und 28 Menschenleben forderte. Und im Zusammenhang mit dem Münchner Oktoberfestattentat von 1980 führt Weißer an: „Im Jahre 1981 wurden im Zuge der polizeilichen Ermittlungen […] 33 Waffen- und Sprengstoffdepots in Norddeutschland aufgefunden, die neben automatischen Waffen 14.000 Patronen, 50 Panzerfäuste, 258 Handgranaten sowie 156 kg Sprengstoff enthielten.“ Der deutsche SBO-Ableger –  er bestand bereits Ende der 1950er Jahre aus 75 hauptamtlichen Mitarbeitern mit nachrichtendienstlichen Verbindungen zu etwa 500 Personen – unterstand übrigens dem BND und soll einer Auskunft der Bundesregierung zufolge erst Ende 1991 endgültig aufgelöst worden sein.
NATO-offiziell stand der Begriff Intelligence zu Weißes aktiver Shape-Zeit als „Synonym […] für die Gesamtheit aller Maßnahmen und Informationen zu einem möglichen Gegner und dessen aktuellen Fähigkeiten“. In Mons arbeitete man bei der „Gewinnung von Indikatoren möglicher bedrohlicher Absichten des Warschauer Paktes“ allerdings praktisch ausschließlich mit Informationen aus zweiter Hand, „da die NATO über keine eigenen Fähigkeiten zur Nachrichtengewinnung im klassischen Sinne verfügte“. Man musste sich „zur Bewertung auf die, von den jeweiligen nationalen Nachrichtendiensten zur Verfügung gestellten Informationen stützen“. Diese Dienste entschieden also nach eigenem Gusto, was sie an Shape weiterreichten. Oder auch nicht, wie Weiße ebenfalls konstatiert.
Intelligence war schon qua Definition also nicht zuständig für Spionageabwehr. So fiel das Wirken eines der Jahrhundertagenten des Kalten Krieges bei Shape, des von der HVA der DDR rekrutierten Rainer Rupp, Deckname Topas, nicht in den Zuständigkeitsbereich, in dem Weiße Dienst tat. Gleichwohl nimmt er wiederholt Bezug auf diesen Fall und vermerkt für eine Periode nach dem NATO-Doppelbeschluss von 1979, als sowjetische Führungskräfte offenbar mit der Vorstellung schwanger gingen, einem befürchteten nuklearen Überraschungsangriff der USA gegebenenfalls präventiv begegnen zu müssen, in Bezug auf Rupps „Verrat“, dass die Frage, ob Rupp damit nicht „mitgeholfen haben könnte, einen Dritten Weltkrieg verhindert zu haben“, nur deshalb nicht abschließend zu bewerten sei, weil „die Nachrichtendienste des damaligen Ostblocks […] über eine Vielzahl weiterer […] hochwertiger Quellen verfügt haben“ dürften.
„Dank glücklicher Umstände“, so Weiße in seinem Resümee, „ist Europa eine kriegerische Auseinandersetzung erspart geblieben.“ Und er fügt einen Satz hinzu, den man angesichts seit Jahren wieder zunehmender militärischer Spannungen an der NATO-Ostflanke den Hauptakteuren auf beiden Seiten gar nicht oft genug ins Stammbuch schreiben kann: „Die Staaten in Europa hätten […] diesen Konflikt nicht überleben können.“
Auch seinen abschließenden Worten zur Rolle der Intelligence in der Endphase des Kalten Krieges muss nicht widersprochen werden: „Inwieweit […] die aufklärenden Dienste beider Seiten zu einer Konfliktverhütung beigetragen haben, werden erst kommende Generationen abschließend beurteilen können, wenn die Archive eines Tages vollständig geöffnet werden.“

P.S.: Zugleich liefert Günther Weiße zumindest an einer Stelle auch ein bedenkenswertes Beispiel dafür, dass, wer evidente Entwicklungen unkonditioniert in die Zukunft projiziert, Gefahr läuft, von jähen Wendungen eines anderen belehrt zu werden. So konstatierte Weiße 2013 zwar noch durchaus zutreffend: „Die Vereinigten Staaten […] ziehen bedeutende militärische Kräfte aus Europa ab.“ Und prognostizierte: „Künftig werden die US-Streitkräfte vorwiegend auf US-Territorium stationiert sein.“ Doch dann brach 2014 der Ukrainekonflikt offen aus, es verschärfte sich das Verhältnis zu Russland und ein gegenläufiger Trend wurde mit Milliardenaufwendungen in Gang gesetzt. Heute sind US-Kampfverbände permanent im Baltikum, in Polen, Rumänien und Bulgarien präsent.

Günther K. Weiße: NATO-Intelligence. Das militärische Nachrichtenwesen im Supreme Headquarters Allied Powers Europe (Shape) 1985-1989, ibidem-Verlag, Stuttgart 2013, 387 Seiten, 29,90 Euro.