von Wilhelm Bode
„Sogar in den dunkelsten Tagen des 20. Jahrhunderts geschahen Wunder.
Mitten in der Hölle schuf meine Mutter für mich einen Garten Eden.“
Diese bedrückende wie ermutigende Erinnerung des Cellisten Stephan Sommer (1937–2001) stellt Reinhard Piechocki an den Anfang seines Schlusskapitels. Er schildert darin die schwere Zeit der jüdischen Pianistin Alice Herz-Sommer (1903–2014) und ihres damals sechsjährigen Sohnes im KZ Theresienstadt. Beide überlebten letztlich nur mithilfe der Musik Frédéric Chopins. Piechocki gelang es, Alice Herz-Sommer an ihrem letzten Lebensmittelpunkt London noch zu Lebzeiten ausfindig zu machen und vor ihrem Tod 2014 im Alter von über 100 Jahren nach zahllosen Gesprächen und Kontakten ihr wahres Jahrhundertleben zu protokollieren. Das von ihm als Koautor 2006 veröffentlichte Buch darüber (Alice Herz-Sommer: Ein Garten Eden inmitten der Hölle. Ein Jahrhundertleben.) wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und zeigt die Akribie, mit der Piechocki als Pianist und begeisterter Musikliebhaber die durch Leid geprägte jüdische Musikgeschichte des „Dritten Reichs“ aus der Perspektive dieser Interpretin nachzuspüren verstand. Eher unbeabsichtigt führten ihn diese Recherchen auch zur Geschichte der Musik Chopins in der verwirrenden Konstellation ihrer polnischen Verehrer einerseits wie der Protagonisten der Nazidiktatur andererseits.
Sein jetzt vorgelegtes Buch beschreibt in rund 18 Episoden den hemmungslosen Missbrauch der Musik Chopins durch die Nazis wie auch die ungeheure Stärke, die sie gleichzeitig den Opfern des verbrecherischen Systems zu vermitteln vermochte. Es gelang dem Autor nach einer Jahre, wenn nicht Jahrzehnte währenden Faktenrecherche, das schwierige und weit verstreute Material unter dem Blickwinkel der Chopinverehrung aufzuarbeiten. Herausgekommen ist ein Beitrag zur NS-Geschichte, wie man ihn bisher noch nirgends lesen konnte. Dass sich der Nationalsozialismus nicht davor scheute, jede Idee, jede Kunstform und jedes Objekt seines Einflussbereiches zu operationalisieren, wenn es im Kalkül seines „Totalitarismus“ lag, ist nicht das Neue, von dem hier die Rede ist. Piechocki beschreibt vielmehr eine zunächst irritierende Widersprüchlichkeit: Täter und Anhänger der sonst jede Moral und jede Zivilisation missachtenden Diktatur verehrten das Schöne in der Musik Chopins. Zugleich versuchten sie, die Kraft und den Widerstandsgeist zu eliminieren, die diese Musik den Opfern und dem polnischen Widerstand vermitteln konnte. Sie suchten also nicht nur das Land und seine Menschen zu okkupieren, sondern auch Chopins unsterbliche Musik – allerdings ohne Erfolg.
Chopins Bedeutung für das nationale und kulturelle Selbstbewusstsein Polens – er gilt als der zentrale Freiheitsromantiker des Landes – ist genauso unbestreitbar wie seine stetig wachsende Popularität und emotionale Wirkung über alle Grenzen hinweg. Chopin ist musikalisches Welterbe wie nur sehr wenige andere Komponisten. Die außergewöhnliche emotionale Kraft seiner Musik, die alle vorhersehbaren Zeiten überleben wird, ließ eben auch führende Vertreter des Nationalsozialismus bis hin zum „Führer“ und seinem Propagandaminister zum Verehrer werden. Von Hitler, so berichtet Piechocki, ist überliefert, dass er sich ausgerechnet auf seinen Wahlreisen 1932 allnächtlich Chopin vorspielen ließ. Offenbar versuchte er im wichtigsten Jahr vor seiner Machtergreifung, Kraft daraus zu schöpfen. Ebenso ist überliefert, dass Goebbels mit seiner Frau bei ihrem Einzug in den Führerbunker kurz vor dem Zusammenbruch die Chopin-Melodie „In mir klingt ein Lied“ (Etüde Nr. 3 op. 10) gesungen haben soll. Vor dem Hintergrund der den Verbrechern bekannten Wirkung Chopins verwundert es darum weniger, dass Chopin von Hitler ab 1933 zunächst benutzt wurde, Polen für seine Auseinandersetzung mit der Sowjetunion zu motivieren. Diese Absicht wurde erst aufgegeben, als er 1939 den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt mit Moskau abschloss, um Polen wenig später zum ersten Kriegsopfer zu machen. Fortan trachtete das Regime, die Verehrung für Chopin in Polen systematisch auszulöschen, um den Widerstand gegen die Besatzung zu schwächen. Wurde in der ersten Phase in Dresden noch eine Chopin-Gedenktafel mit typischem Nazi-Pomp enthüllt, so ließ man nach dem Einmarsch in Warschau das nationale Chopin-Denkmal schleifen. Wieder kurze Zeit später wurde durch den Sonderstab Musik unter der Befehlsgewalt Alfred Rosenbergs ein originales Piano Chopins aus Paris geraubt und nach Berlin verbracht, wo es den Krieg überdauerte. (Es wurde nach Kriegsende wieder nach Paris zurückgeführt.) Ausgerechnet der sogenannte Schlächter von Polen, Hans Frank, der sich selbst dem Bildungsbürgertum zurechnete, ließ das Chopin-Denkmal in Warschau abbauen. Als Chopin-Verehrer beschrieb er seine Haltung intern mit den Worten: „Ah, Chopin, ein Engel mit weißen Flügeln. Was tut es, wenn er ein polnischer Engel ist?“
Auf der Opferseite wurde Chopin indes zur Kraftquelle des Überlebens oder des Widerstands. Die im Untergrund kämpfende polnische Heimatarmee benutzte das Anfangsmotiv der Heroischen Polonaise in As-Dur als Erkennungszeichen im Funkverkehr. Piechocki gelingt es, durch die Beschreibung der Chopin-Verehrung im Kreis der geknechteten jüdischen Bevölkerung Polens jedem Leser fühlbar zu machen, welche Kulturbarbarei von den Nazis ausging. Sie wussten: Knechtschaft beginnt im Kopf und in der Seele!
Gerade die anrührende Geschichte von Alice Herz-Sommer und Teofila Reich, der späteren Frau Marcel Reich-Ranickis, lässt die Kraft in Chopins Musik spüren und den Leser wieder Hoffnung schöpfen, dass ein Missbrauch des Schönen zwar möglich und real ist, dass sich letztlich aber das Gute mit seiner Hilfe durchsetzt. Man wünschte sich, diese dem bürgerlichen Bildungsideal entnommene Haltung bekäme in der Gegenwart wieder Akzeptanz, um der zunehmenden Banalisierung im Bildungssystem und im öffentlichen Raum entgegenzutreten. Wie wäre es, wenn die Beherrschung eines Instruments gleichwertig neben der eines Computers zur Pflicht an den Schulen würde. Die Fähigkeit von Musik, das Abstraktionsvermögen und die Persönlichkeit zu stärken, ist unbestreitbar. Ihre Kraft wäre, das lehrt uns Piechockis Buch, auch ein Mittel zur Immunisierung gegen Intoleranz und aufkeimenden Rassismus.
Reinhard Piechocki: Unter Blumen eingesenkte Kanonen. Chopins Musik in dunkler Zeit (1933–1945). Staccato Verlag, Düsseldorf 2017. 294 Seiten, 29,00 Euro.
Wilhelm Bode, Jahrgang 1947, lebt in Stralsund. Bode, Jurist und Diplomforstwirt, war Leiter der saarländischen Forstverwaltung und ist als Autor insbesondere durch seine Bücher zur Reform des Jagd- und Forstwesens sowie zum Naturschutz bekannt.
Schlagwörter: Frédéric Chopin, Musik, Nationalsozialismus, Polen, Reinhard Piechocki, Wilhelm Bode