von Peter Linke
Er habe seine Kolleginnen und Kollegen nach Ise-Shima (Präfektur Mie) eingeladen, um ihnen die Schönheit der Natur, die reiche Kultur und die Traditionen Japans nahezubringen, so Premier Shinzō Abe anlässlich der Eröffnung des G-7-Gipfels vor genau einem Jahr. Nur deswegen? Oder wollte er damit auch, wie einheimische Medien mutmaßten, Japans zahlreichen Anhängern des Shintō einen Gefallen tun, ist doch die Präfektur Mie ebenfalls die Heimstatt des Großen Schreins von Ise (Ise daijingū), dem zentralen Shintō-Heiligtum des Landes.
Shintō – der Weg der Götter: Für die einen ein harmloser Naturkult; für andere ideologische Grundlage eines absolutistischen kaiserlichen Systems (tennōsei) und daher mitverantwortlich für Japans aggressive Expansionspolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kokka shintō – Staatsshintō – wurde er damals genannt: ein mystisches Konstrukt, basierend auf dem archaischen Prinzip der Einheit von religiösem Kult und staatlicher Verwaltung (saisei itchi). Von den US-Amerikanern 1945 auf den Müllhaufen der Geschichte entsorgt, hörte er freilich nie auf, Japans Nationalkonservative zu inspirieren. Ihr derzeit vielleicht prominentester Vertreter: Premier Abe, unter anderem Mitglied der 308 Parlamentarierinnen und Parlamentarier umfassenden sogenannten „Shinto-Vereinigung für Geistige Führung“ (shintō seiji renmei).
Hauptanliegen der bereits 1969 gegründeten Organisation sind die Verabschiedung einer neuen Verfassung, die sich an Japans „traditionellen Werten“ (mit der Kaiserlichen Familie im Mittelpunkt) orientiert, sowie die Einführung nationaler Zeremonien für die im Tokioter Yasukuni-Schrein zur ewigen Ruhe gekommenen sogenannten „heroischen Seelen“ (eirei), das heißt die Seelen jener, die sich (als Zivilisten oder Militärs) „außerordentliche Verdienste“ gegenüber dem Kaiserhaus erworben haben. Errichtet 1869 auf Befehl des Meiji-Kaisers Mutsuhito (1868-1912) zur ewigen Erinnerung an die für das Kaiserhaus im gerade zu Ende gegangen Bürgerkrieg Gefallenen, mutierte Yasukuni rasch zu einem der zentralen Schreine des Kokka shintō. Heute stellt er insbesondere für China und Korea ein rotes Tuch dar, da sich unter den dort verehrten 2,5 Millionen Eirei auch rund tausend befinden, deren Träger nach 1945 als Kriegsverbrecher verurteilt worden waren.
Weit weniger misstrauisch beäugt: der Großen Schrein von Ise. Was verwundert, denn auch er gehörte zu den zentralen Kultstätten des Kokka shintō, gilt er doch als Heimstatt der legendären Sonnengöttin Amaterasu (amaterasu-ō-mi-kami), von der in direkter Linie die kaiserliche Familie abstammen soll. Bis heute wird dem Vernehmen nach im Ise-Schrein der sogenannte Heilige Spiegel (yata no kagami) aufbewahrt – neben dem Schwert (kusanagi no tsurugi) und einem Krummjuwel (yasakani no magatama) eine der drei Throninsignien Japans (sanshu no shinki). Den Hohepriester beziehungsweise die Hohepriesterin von Ise stellt traditionell und exklusiv die Kaiserliche Familie. So liegt das Amt gegenwärtig in den Händen von Atsuko Ikeda (geboren 1931), der vierten Tochter des Shōwa-Kaisers Hirohito (1926-1989); assistiert wird ihr dabei von Sayako Kuroda (geboren 1969) – jüngstes Kind und einzige Tochter des seit 1989 amtierenden Heisei-Kaisers Akihito.
Als Hohepriesterin von Ise ist Atsuko Ikeda zugleich Vorsitzende der „Vereinigung der Shintō-Schreine“ (jinja honchō), deren 80.000 Mitglieder sich vorbehaltlos zum sogenannten Ise-Shintō bekennen. Die nach 1945 entstandene Lobby-Organisation verfügt über ausgezeichnete Kontakte zur regierenden Liberaldemokratischen Partei (jiyūminshutō) und beeinflusst auf diesem Wege seit längerem massiv deren konservative Gesetzgebung. Bereits durchgesetzt wurde, dass während offizieller Schulzeremonien die Nationalflagge (hi no maru) aufgezogen und die Nationalhymne (kimi ga yo) abgespielt wird. Weiterhin unter Beschuss: Japans Großes Bildungsgesetz (Stichwort: Moralerziehung), die verfassungsmäßige Trennung von Kirche (Schrein) und Staat sowie das Prinzip gleicher Rechte für Frauen und Migranten. Und natürlich möchte man, dass noch mehr Politiker regelmäßig im Yasukuni-Schrein vorbeischauen…
In den letzten Jahren hinzugekommen ist das deutliche Bemühen, Shintō als eine Art vorzeitlicher Tradition der Naturverehrung mit erheblichem Zukunftspotential zu präsentieren: Das spezielle japanische Verhältnis zur Natur, so der Umweltarchäologe Yoshinori Yasuda, gehe zurück auf eine über 12.000 Jahre alte „Waldzivilisation“. Seit dieser Zeit hätten die Japaner kulturelle und soziale Traditionen gepflegt, die im Kern darauf abzielten, „durch und mit der Natur zu leben“. Shintō, unterstreicht der Theologe Mayumi Tsunetada, lebe mit der Natur und sei mit ihr zu einer solchen Einheit verschmolzen, dass seine Götter selbst Natur geworden seien… Japan, fordert schließlich und endlich der Philosoph Takeshi Umehara, solle eine neue Zivilisation erschaffen, welche die naturfeindliche, weil egoistische moderne Zivilisation Europas mit der indigenen Waldkultur Japans verbinde.
Die zentralen Prinzipien eines derart postmodernistischen Weltverständnisses, so Umehara, seien Mutualismus – eine Ethik, basierend auf dem Verhältnis zum „Anderen“ und zur Natur und nicht auf dem Selbst-Interesse des absoluten Individuums – und Zyklizität – eine Ethik der Generationenverantwortung, basierend auf dem Glauben fortgesetzter Wiedergeburt, dem Glauben an die Verschmelzung von Sein und Werden zu einer Zeit ewiger Wiederkehr. Zentrale Themen dieses neogrünen Ansatzes sind freilich nicht Umweltverschmutzung, Klimawandel oder die Abholzung südostasiatischer Wälder durch japanische Firmen. Im Mittelpunkt steht der Erhalt sogenannter Heiliger Schreinwälder (chinju no mori) – Waldgebiete, die mehr oder weniger bedeutende Shintō-Heiligtümer beherbergen.
Gleichzeitig jedoch richten vom Shintō inspirierte Kulturkritiker wie Mayumi Tsunetada, der Architekturtheoretiker Atsushi Ueda oder der Religionssoziologe Minoru Sonoda ihr Augenmerk über den Wald hinaus auf Japans Städte. Deren Niedergang sei direktes Ergebnis der durch überbordenden Konsum ausgelösten Krise der traditionell kollektivistischen japanischen Kultur. Kiez-basierte Stadtentwicklungsansätze (machizukuri) – die Formierung lokaler urbaner Gemeinschaften, in denen jeder Einzelne Verantwortung für das Ganze übernehme – böten hier eine echte Alternative.
In diesem Zusammenhang von nicht zu unterschätzender Bedeutung sei die Institution des (lokalen) Schreinfestes (matsuri): Sie sorge dafür, dass aus einer bloßen Gruppe von Menschen eine wirkliche Gemeinschaft (kyōdōtai) entstehe: Während des Matsuri, unterstreicht Sonoda in seinem 1997er Bestseller „Die Welt des Shintō“, würden individuelle Religionen und Glaubenssätze überwunden: der Kiez (machi) bilde ein Ganzes; alle seien beteiligt – von ganz jung bis ganz alt. Darin zeige sich der öffentliche Charakter (kōkyōsei) des Schreins (jinja).
Dass Tokio früher oder später damit beginnen wird, ein solch runderneuertes Shintō-Verständnis zum integralen Bestandteil seiner globalen Soft-Power-Aktivitäten zu machen, dafür werden insbesondere neu-grüne Kulturkritiker wie Takeshi Umehara, Yoshinori Yasuda, aber auch der Religions- und Folkloreforscher Tetsuo Yamaori sorgen. Sie alle entstammen dem Dunstkreis des in Kyōto beheimateten „Internationalen Forschungszentrums für Japanstudien“ (Nichibunken). Gegründet 1887 auf Initiative des damaligen Ministerpräsidenten Yasuhiro Nakasone, sollte das Zentrum angesichts gewaltiger Außenhandelsüberschüsse das Image Japans in der Welt verbessern helfen. Was durchaus gelang, obwohl von Anfang an auch der Vorwurf im Raum stand, das Nichibunken leiste mit seinen Forschungsprojekten diversen Theorien japanischer Exklusivität (nihonjinron) Vorschub. Lange Jahre dienten Umehara (geboren 1925) und Yamaori (geboren 1931) dem Zentrum als Direktoren, war Yasuda (geboren 1946) dort als führender wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.
Unterstützung erhalten sie dabei nicht zuletzt von japanischen Pop-Künstlern. Etwa von Hayao Miyazaki (geboren 1941), der in seinen weltweit vermarkteten Anime-Produkten wie „Mein Nachbar Totoro“ (1988), „Prinzessin Mononoke“ (1997) oder „Chihiros Reise ins Zauberland“ (2001) Umweltkritik in eine zauberhaft shintōesque Bildsprache kleidet. Oder von Shigeru Miyamoto (geboren 1952), Spiele-Entwickler („Super Mario“) bei der im traditionell umweltbewussten Kyōto ansässigen Firma Nintendo Co. Ltd., dessen „Legende von Zelda“ (TLoZ) – mit mehr als 75 Millionen verkauften Kopien seit 1986 eines der erfolgreichsten Computerspiele aller Zeiten – vor grüner Shintō-Mythologie nur so trieft. Und bestimmt ist es auch kein Zufall, dass die Hauptfigur in Masamune Shirōs (geboren 1961) Ende der achtziger Jahre erstmals veröffentlichen ikonischen Manga-Cyberpunksaga „Ghost in the Shell“ ausgerechnet Motoko Kusanagi heißt…
Schlagwörter: Japan, Nationalkonservative, Peter Linke, Shintō, Shintō-Schreine, Shinzo Abe, Soft-Power-Aktivitäten