von Holger Politt, Warschau
Auch in Polen hatte die Frankreich-Wahl die Gemüter elektrisiert. Während die eine Hälfte im politischen Spektrum am Abend des 7. Mai aufatmete, ist für die andere die Luft zum Atmen wieder ein Stückchen dünner geworden. Die liberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza hatte am Vorabend der Wahlen nicht von ungefähr mit der provozierenden Schlagzeile aufgemacht: „Welche Zukunft werden die Franzosen den Polen bescheren?“ Als nach dem Wahlsieg von Emmanuel Macron Frankreichs Nationalfarben demonstrativ gemeinsam mit dem EU-Blau in die Höhe gestreckt wurden, sahen sich diejenigen in Polen bestätigt, die seit anderthalb Jahren öffentlich gegen die nationalkonservative Regierungspolitik protestieren, indem sie sich klar zur EU-Fahne bekannten.
Es waren auch die Proteste gegen die Vision eines nur noch locker zusammengefügten Bundes souveräner Vaterländer, mit der Jarosław Kaczyński massiven Rückhalt bei seinen Landsleuten suchte. Über alle Maßen verdächtig waren ihm die Einflüsse aus Brüssel oder Berlin, mit denen Polens nationale Identität gefährlich unterlaufen werde. Verantwortlich machte er die geltende Verfassung von 1997, weil sie die Abgabe von Souveränitätsrechten an internationale Gemeinschaften, denen Polen angehört, ausdrücklich erlaubt. Die nationalkonservative Wende, die dem Wahlvolk in Polen als einziger Ausweg aus dem angeblichen Dilemma angepriesen wurde, ist mittlerweile mächtig ins Stottern geraten. Weit entfernt ist die Kaczyński-Partei in aktuellen Umfragen von jener Zweidrittelmehrheit, die für die Verfassungsänderung im Parlament zunächst einmal notwendig wäre. Deshalb wird nun verstärkt versucht, mit plebiszitären Emotionen die Sache anzuheizen.
Einen neuen Vorstoß machte Staatspräsident Andrzej Duda, der Anfang Mai eine baldige Volksabstimmung über die Verfassung ins Gespräch brachte. Wieder einmal ließ er sich allzu offensichtlich vor den Karren der PiS-Politik sperren, auch wenn er aus seiner Ablehnung der geltenden Verfassung nie einen Hehl gemacht hatte, auch nicht in der Kampagne, in der er erfolgreich nach dem Amt des obersten Verfassungshüters griff. Die Verfassung, deren nicht zu übersehender liberaler Geist einem überaus klugen Kompromiss im Rahmen des damaligen politischen Kräfteverhältnisses entsprach, ist seit jeher ein Dorn im Auge nationalkonservativer und erzkatholischer Kräfte, die sich 1997 überrumpelt fühlten.
Andrzej Duda bringt nun den 11. November 2018 als Tag des Referendums über die Verfassung ins Spiel. An diesem Tag, so Polens Präsident, hätten die Polen dann erstmals seit 1989 die Gelegenheit, frei über ihre Verfassung zu befinden. Klarer kann die geltende Verfassung, die ja in einer Volksabstimmung angenommen worden war, nicht abgelehnt werden. Duda zählt auf, wie viel Millionen Stimmen er 2015 in der Stichwahl mehr bekommen habe als 1997 Ja-Stimmen für die Verfassung abgegeben worden seien. Er habe so gesehen ein starkes gesellschaftliches Mandat, um an der Verfassungsfrage zu rütteln. Am 11. November 2018 wird sich jener Tag zum einhundertsten Mal jähren, an dem Polen nach über einem Jahrhundert Dreiteilung seine staatliche Unabhängigkeit wiederherstellen konnte. Das nationalkonservative Lager will jetzt versuchen, diesen symbolträchtigen Tag für den großen Angriff auf die Verfassung auszunutzen, um die Weichen für die Zukunft zu stellen, was ihm bisher gegen den massiven Widerstand in der Gesellschaft nicht gelungen ist.
Die gegen die Kaczyński-Richtung ausgerichtete Opposition gruppiert sich indes um eine andere Vision. Mit Macrons deutlichem Sieg in Frankreich werden nun Fragen auf die Tagesordnung gestellt, die auf einen engeren, rechtlich besser abgesicherten Zusammenhalt der Länder mit der EU-Gemeinschaftswährung Euro abzielen. In dieser Gruppe, so die Annahme vieler Kommentatoren an der Weichsel, werde künftig im großen Maße über die Zukunft der EU entschieden. Keine Frage, dass man auch das eigene Land in diesen Reihen zu sehen wünscht. Polen müsse wieder zu einem Vorreiter der EU-Integration werden – so wie meistens in den Jahren bis 2015.
Die Frankreich-Wahl hat es an den Tag gebracht: Die europapolitischen Debatten in Polen werden künftig an der Linie geschieden, an der auf der einen Seite einer Rücknahme der bisherigen EU-Integration und einer Stärkung der Nationalsouveränität das Wort geredet wird, während die andere Seite die Vision einer sich weiter öffnenden Gesellschaft als die beste Voraussetzung für die eigene Entwicklung eröffnet. Das große Jubiläumsjahr 2018 wird die öffentliche Auseinandersetzung um diese Zukunftsfrage Polens mit Sicherheit kräftig befeuern. Bereits heute wird dem Kaczyński-Lager immer öfter vorgeworfen, das Land aus der EU herauszuführen, so als ob es eine Möglichkeit hätte, hierin Großbritannien zu folgen.
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