von Heino Bosselmann
Der Computer, als Rechner, ist ein Werkzeug, vielfach beschrieben, faszinierend darin, Wirklichkeit mittels dualer Mathematik abzubilden, nachzubilden und zu verarbeiten. Er generiert Welten. Und er ist ein famoses Medium, geschaltet zwischen uns und die Welt. Diese Welt selbst ist, was sie ist; die Zahlen, ob Null, ob Eins, ob Trillionen, interessieren sie nicht, denn ihre Mannigfaltigkeit da draußen trägt keine Ziffern; wir erst projizieren „Zahlen und Figuren“ (Novalis) auf alles, um es für uns mittels apriorischen Denkens zu rastern und handhabbar zu machen. Die Mathematik, die wir im Verstand mitbringen, passt aufs Wunderbarste als Schlüssel in die Welt, die wir vorfinden. Wir nutzen diesen Aufschluss, um zu erkennen und um das Erkannte zu verwerten. Das ist unsere Art. Und der Computer – als Überrechner – ist ein effizienter Verwerter, wir füttern ihn mit allem, was hineingeht. Mit immer mehr, mit der ganzen Welt. Vielleicht verschwinden wir bald selbst in den Speichermedien und im weltweiten Rechner-Netz, so ähnlich wie in der jener Maler in der chinesischen Anekdote, der schließlich in seinem eigenen Bild verschwindet.
Digitale Welt klingt modern, analoge Welt hingegen hoffnungslos antiquiert. Wir wollen es nicht mehr analog, sondern nur noch digital. Mag aber nicht eine bestimmt Gefahr darin bestehen, wenn wir uns vom Analogen, vom Tatsächlichen, vom sinnlich Empirischen immer weiter entfernen, uns dem Natürlichen also tendenziell entfremden und stattdessen nur mehr in der sterilen Welt des mathematisch beziehungsweise digital Generierten heimisch zu fühlen beginnen? Alles Reale ist berechenbar; aber alles, was computerbasiert berechnet wird, ist zunächst nicht real greifbar vorhanden, sondern, nun ja, ein trügerisches Ding, eine vorgespiegelte, künstlich entworfene Welt, in der wir evolutionsgebildete Naturwesen nicht eigentlich zu Hause sind. Nein, hier soll gar nicht fortschrittspessimistisch beschworen werden, wie sehr wir alle getroffen wären, würden die maßgeblichen Server und Knotenpunkte des Web von irgendeiner Katastrophe zerstört, diesem mittlerweile schlimmsten GAU. Man denke stattdessen über Einfacheres nach:
Wenn jede Gleichung, jede Ableitung, jedes geometrische Problem in wundervoller Dienstleistung per Mausklick oder App gelöst werden kann, verstehen wir dann nicht immer weniger, was sich hinter dem mathematischen Konstrukt „in echt“ verbirgt? Es verbirgt sich uns nämlich immer mehr. Ebenso wie sich die Grammatik, Grundlage nicht nur unserer Sprache, sondern gleichfalls der Klarheit unserer Gedanken, hinter einem Korrekturprogramm versteckt, so unauffindbar, bis vielleicht niemand mehr weiß, was Grammatik eigentlich ist und soll. So, wie die Ableitung einer Gleichung als Problem, das sie ist, und in der Anschaulichkeit, die sie mal hatte, hinter einem schnellen Mausklick verschwindet. Wie kommen von den Rechnern, Smart-Phones, Tablets nicht mehr los, wie digitalisieren alles; daher sind diese Geräte unsere Fetisches und präsentieren sich im schicksten Design. Wir bergen darin unsre Welt und das ganze Leben. Das ganze? Echt?
Offenbar müssen Kinder, um Abenteuer zu bestehen, kaum mehr hinausgehen; sie erleben Farbigeres, Spannenderes, Phantastischeres über ihre Konsolen und Systeme für PC- und Online-Spiele. Um ein Klischee zu bedienen: Sie mögen zunehmend blass, adipös und verrenkt vor ihren Screens hocken, ganz so wie Platons fixiertes Publikum in der Höhle, und sie dürfen sich doch als fitte Helden in ihrer Welt erleben, wenn sie über einen der starken Game-Commander verfügen, diese High-End-Weiterentwicklung des einstigen Joy-Sticks, mit dem der Kosmos der Spiele regiert wird.
Abgesehen von der Gefahr digitalen Demenz, vor der Hirnforscher Manfred Spitzer warnt, geht es um eine größere Gefahr, nämlich die einer Verwechslung beider Welten, der digitalen mit der realen. Ein Auto, das ich in einem PC-Game schrotte, funktioniert auf dem nächsten Level wieder wie neu; es wird von Rechner generiert, und ist somit regenerierbar. No Problem! Jeder Söldner, der im Ego-Shooter erledigt wird, lebt als Zahlenkolonne über ein Programm sogleich neu auf. Ständige Reinkarnation, beinahe nietzscheanisch die ewige Wiederkehr des Gleichen auf dem Bildschirm. The show must go on, and the show goes on. – Aber: Wird jemand, der in solchen virtuellen Räumen haust und geprägt wird, ebenso in der Welt analoger Tatsachen lebensfähig sein? Wird er nicht sein Maß, seine Relationen verlieren und damit den Respekt vor den Dingen und Mitgeschöpfen?
Wir Älteren, die keine digital natives sind, werkelten früh in Werkstätten herum. Schraubstock statt Festplatte, Schweißgerät statt Computer-Maus, Uhren, die wir aufziehen mussten, wie wir als Kinder unser Blechspielzeug aufzogen. Wir schraubten erst an unseren Fahrrädern, dann an Mopeds, dann an Motorrädern. Wir gingen überhaupt mit einer Maschinerie um, die empirisch, also sinnlich-sensuell erfahrbar war, beglückend und schmerzlich, laut und kraftvoll, rauchend und stinkend, Respekt gebietend, weil man den Umgang mit Funktion und Energie erst erfahrend zu lernen hatte. Vom Dreirad bis zum rückstoßfreien Geschütz wollte die Technik als eine Verlängerung und Verstärkung unserer Sinne und Muskeln beherrscht werden. Von Fall zu Fall. Und oft genug bis zum Unfall. Irgendwo hing immer eine Verbandskasten. Und wurde früher oder später gebraucht.
Aber das Kid am Game-Commander kennt gar keine irreversiblen Unfälle mehr, jedenfalls nicht solche, die es am eigenen Körper erfährt. Aber verlernt es so nicht die Bewährung an der echten Herausforderung, vor allem aber die Verantwortung, die wir im Realen beinahe überall zu übernehmen haben? Unheimlich, wie gering der Unterschied zwischen dem am Computer spielenden Kind und dem GI an den Bedienelementen einer Killer-Drohne erscheint.
Alles Lebendige, sogar die analoge Technik, ist verletzlich. Die Menschen und die Natur, ja nicht mal Maschinen lassen sich über Reset- und Neustart-Befehle in der Weise einer Wunderheilung kurieren. Wir alle haben und brauchen unser Maß, eines, das der Rechner mit seinen Giga- und Terra-Bytes nicht kennt. Mag sein, wir sollten ihn öfter mal herunterfahren, um wieder zu spüren, wie eng unsere naturbedingten Radien so sind und was uns zugemessen ist. In Wirklichkeit. Um Fühlung aufzunehmen. Fühlung! Wobei noch nicht mal von anderen Irrungen und Wirrungen die Rede ist, der virtuellen Liebe etwa auf den Dating-Plattformen, den sehnsüchtig-verzweifelten Projizierungen beim Partner-Shopping und dem Jahrmarkt der Selfie-Eitelkeiten.
Schlagwörter: Computer, digitale Welt, Heino Bosselmann, Mathematik, Natur, Technik