20. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2017

Zwei Biografien, ein Leben

von Mathias Iven

„Der Gedanke, dass es zu Fallada nichts Neues mehr gibt, ist abwegig.“ – Diese Auffassung vertritt nicht nur Klaus-Jürgen Neumärker, der in der jüngsten Nummer der von der Hans-Fallada-Gesellschaft herausgegebenen Zeitschrift Salatgarten bislang unbekannte Materialien zu Falladas Krankengeschichte ausgewertet hat und so die von ihm 2014 vorgelegte „Chronik des Leidens“ ergänzen und korrigieren konnte.
In eben jener Ausgabe des Salatgartens findet sich auch eine Kurzfassung der Einleitung zu der Ende letzten Jahres erschienenen Fallada-Biografie von André Uzulis. Ganz im Sinne von Neumärkers Feststellung heißt es dort: „Dieses Leben kann nicht komplett neu erzählt werden, aber es kommen Pinselstriche hinzu.“ Doch geht es um mehr als nur um „Pinselstriche“, entscheidend ist immer auch die Sicht des Autors. Uzulis dazu: „Der Ansatz der Biografie ist – und das unterscheidet sie womöglich am stärksten von den vorhergehenden Arbeiten – ein historischer. Ich bin Historiker, meine Perspektive ist die des Einzelnen in der Geschichte. Mein Anliegen ist es nicht, Fallada in seinem und durch sein Werk literaturwissenschaftlich zu deuten, obwohl auch dies ansatzweise geschieht. […] In erster Linie zeigt die Biografie Fallada in den konkreten historischen Zeitläuften seiner Epoche, die so reich an Brüchen und Katastrophen war.“
Fünf Fallada-Biografien sind seit 1963 vorgelegt worden, die letzte wurde 1998 von der irischen Germanistin Jenny Williams veröffentlicht (2002 erschien die deutsche Ausgabe, 2011 die aktualisierte Neuauflage). Fast zwei Jahrzehnte später, anlässlich seines 70. Todestages, kommen nun gleich zwei neue Lebensbeschreibungen in die Buchhandlungen. Die Autoren – der Journalist und Historiker André Uzulis und der Germanist Peter Walther – haben dafür bereits bekannte und veröffentlichte Fakten gesichtet und neu bewertet, bislang wenig beachtete Quellen untersucht und weitere erschlossen, sich durch zahlreiche Kranken-, Verwaltungs- und Prozessakten hindurchgearbeitet, die Arbeitstagebücher Falladas studiert und vor allem die unveröffentlichte, mehr als 8000 Briefe umfassende Korrespondenz gelesen, zu der auch die von beiden erstmals ausgewerteten Briefe aus der Zeit von Falladas Tätigkeit als Sonderführer des Reichsarbeitsdienstes in Frankreich im Jahre 1943 gehören.
Uzulis, der sich in den zurückliegenden 15 Jahren intensiv mit Falladas Leben und Werk beschäftigt hat, sieht den Schriftsteller zuvorderst als einen „Autor für Leser“. Der als Rudolf Ditzen geborene Fallada (im Mai 1919 beantragte er die amtliche Eintragung des Künstlernamens) „versetzte sich in jene kleinen Leute hinein, die seine Leser waren, ohne je auf sie herabzublicken“. Entsprechend wurde er von der Wissenschaft zunächst als „volkstümlich“ abgetan. Heute hingegen sieht man sein Werk als festen Bestandteil des literarischen Erbes deutscher Sprache. „Falladas Stärke“, so formulierte es Günter Caspar, Herausgeber der zwischen 1962 und 1987 erschienenen Fallada-Werkausgabe, „ist die scheinbar mühelose Darlegung so vieler Milieus und die großartige, aus enger Vertrautheit mit dem Menschen gewonnene Kunst, Menschen zu charakterisieren.“
Was hat Uzulis Neues zutage gefördert? Neben dem wenig bekannten Fotomaterial sind vor allem drei Dinge hervorzuheben. Erstens: Unter Beachtung der Tatsache, dass auch zu früheren Zeiten die Einschulung mit sechs Jahren erfolgte und belegt durch den Aufnahmeschein des Berliner Prinz-Heinrich-Gymnasiums, datiert er diesen Vorgang nunmehr auf den 10. Oktober 1899 und nicht wie andere Biografen (so auch Walther) auf Ostern 1901. Zweitens: Für die Darstellung der Vorgänge im Zusammenhang mit dem Duell zwischen Fallada und seinem Jugendfreund Hanns Dietrich von Necker zog Uzulis einen bislang unveröffentlichten Text heran, der eine Ergänzung zu dem 1911 in der Jenaer Psychiatrie auf Anordnung der Ärzte geschriebenen, 2010 in Buchform edierten Lebenslauf darstellt. Drittens: Erstmals wurde der Nachlass der aus dem Sudetenland stammenden Schriftstellerin Marianne Portisch (verheiratete Wintersteiner) näher untersucht, die Fallada 1938 kennenlernte. Unter den Pseudonymen Annemarie Steiner und Wera Orloff veröffentlichte sie fast 40 Romane und Kinderbücher sowie einige Biografien, beispielsweise zu Lou von Salomé, Lola Montez oder Katharina von Bora. Ihre Beziehung zu Fallada sei, wie in einem Artikel in der Passauer Neuen Presse 2013 zu lesen war, „eine Freundschaft gewesen, die nicht gefordert habe, sondern immer nur zum Geben bereit gewesen sei“.
Peter Walthers Fallada-Biografie – in gut eineinhalb Jahren als Auftragswerk des Aufbau Verlages entstanden – wartet gleichfalls mit Neuentdeckungen auf. Zum ersten Mal wurden Erinnerungen eines Mitschülers aus den Jahren 1910/11 zu Falladas Leipziger Schulzeit berücksichtigt. Für die Zeit seiner Tätigkeit als Eleve auf Gut Posterstein im Jahre 1913 konnten Aufzeichnungen von Zeitgenossen herangezogen werden, so die des Landarbeiterkindes Hans Rothe („Seine [Falladas] Romane beweisen, daß er alles irgendwie Brauchbare notiert haben muß.“) und die von Margit Elbers, Tochter des damaligen Gutsbesitzers. Neue Aufschlüsse zu Falladas letzten Lebensjahren hat die Auswertung von Notizen aus dem Nachlass seiner Frau Suse erbracht. Und schließlich hat Walther der im Marbacher Literaturarchiv aufbewahrten Korrespondenz mit Siegfried Kracauer und Will Vesper besonderes Augenmerk geschenkt.
Es gibt es immer noch „Leerstellen“ in Falladas Biografie. So wissen wir zum Beispiel kaum etwas über seine Haftzeit in Neumünster in den zwanziger Jahren. Uzulis sieht für die künftige Forschungsarbeit eine „lohnenswerte Aufgabe“ vor allem darin, das in „Damals bei uns daheim“ und „Heute bei uns zu Haus“ von Fallada Erinnerte „auf seinen autobiografischen Gehalt hin zu erforschen“. Hatte doch dieser seinem Verleger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt im Mai 1941 gestanden: „Natürlich schwindele ich auch viel, klaue mir meine Geschichten, wo ich sie finde, und drehe wegen einer guten Pointe alles um.“ Schauen wir uns „Heute bei uns zu Haus“ an, dann, so Uzulis, „ergibt ein Vergleich mit anderen Quellen […], dass vieles durchaus wahrheitsgetreu erzählt ist, wenn auch literarisch ausgemalt“. So zum Beispiel die Schilderung der Umstände, wie Fallada seine spätere Frau Suse (eigentlich Anna Issel) kennenlernte – in Walthers Darstellung die „entscheidende Zäsur“ in Falladas Leben. Tatsächlich stieß man nicht zufällig im Hausflur zusammen, sondern Fallada wurde durch die Begegnung mit Suses Bruder Hans im Hamburger Guttempler-Orden auf sie aufmerksam – Hannes Lamp hat das 2007 ausführlich beschrieben. Oder nehmen wir das Manuskript „Wie ich Schriftsteller wurde“: Fallada beschreibt darin unter anderem, wie er ab dem 1. März 1916 als Assistent im Büro der Landwirtschaftskammer für Pommern in Stettin arbeitete und dort zum Spezialisten für Kartoffelzüchtung wurde. Laut eigenen Angaben lernte er in dieser Zeit „rund 1200 Kartoffelsorten“ zu unterscheiden. „Experten bezweifeln“, merkt Uzulis dazu an, „dass es damals überhaupt derart viele Kartoffelsorten gegeben hat.“ Handelt es sich also schlicht um einen Tippfehler, um „eine Null zu viel“ – oder doch um eine (literarische) Übertreibung?

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Immer wieder und durchaus berechtigt wird die Frage gestellt: Warum muss die Geschichte eines Menschen neu erzählt werden? Im Fall Falladas lässt die Faszination, die von seiner Biografie ausgeht, bis heute nicht nach. Für Peter Walther, der in Falladas Geburtsstadt Greifswald studiert hat, resultiert sie unter anderem daraus, „dass sich die verschiedenen Bilder nicht zu Deckung bringen lassen“: auf der einen Seite der pedantisch planende Landwirt, der treu sorgende Haushaltsvorstand und Familienvater sowie der gut verdienende Schriftsteller, auf der anderen Seite der von Dämonen bedrängte, politisch naive Künstler, der von Alkohol und Morphium Abhängige, der Frauenheld. „Fallada ist“, so Walther, „am Leben mit einer Größe gescheitert, wie nur wenige sie aufbringen, die es mit Erfolg bewältigen.“
Fazit: Man sollte unbedingt beide Biografien lesen! Aber nicht nacheinander, sondern nebeneinander!

André Uzulis: Hans Fallada. Biografie. Steffen Verlag, Berlin 2017. 440 Seiten mit 105 Abbildungen, 26,95 Euro.

Peter Walther: Hans Fallada. Die Biographie. Aufbau Verlag, Berlin 2017, 515 Seiten mit 59 Abbildungen, 25,00 Euro.