von Corbinian Senkblei
Bevor die deutschen Faschisten Otto Freundlich, den jüdischen Maler, Bildhauer und Verfasser kunsthistorisch-philosophischer Schriften, der zugleich Kommunist war, 1943 während des Transports in das Vernichtungslager Sobibor oder dortselbst ermordeten, hatten sie sein Werk gleich dem vieler anderer Künstler als „entartet“ eingestuft und aus öffentlichen Museen und Sammlungen verbannt. Mehr noch – ein Foto von Freundlichs an die Monumentalfiguren auf der Osterinsel erinnernder und seit der Nazizeit verschollener Skulptur „Großer Kopf“ von 1912 machten sie zum Titelbild des Katalogs ihrer widerlich konzipierten, propagierten und exekutierten Wanderausstellung „Entartete Kunst“ im Jahre 1937.
Freundlich war einer der konsequentesten Abstrakten unter den Künstlern seiner Zeit. Sein größtes erhaltenes Mosaik, „Die Geburt des Menschen“ von 1919, überstand – Arabeske der Geschichte – die braune Barbarei nur, weil der Auftraggeber das Interesse daran noch vor dessen Fertigstellung verloren hatte und es nicht in seiner im Zweiten Weltkrieg zerstörten Villa anbringen, sondern in einem Schuppen einlagern ließ.
Freundlichs häufig nur als Komposition bezeichneten Gemälde sind in erheblicher Anzahl von einer nachgerade sanguinischen Strahlkraft, in der eine Inspirationsquelle aus den jungen Jahren des Künstlers nachwirkte: Der war zu Beginn seines Schaffens an Restaurierungsarbeiten im Dom zu Chartres beteiligt, dessen berühmte Glasfenster mit ihrem einzigartigen Blau einen Farbenrausch entfalten, der sich dem Deutschen offenbar unvergesslich einprägte.
Der Künstler selbst allerdings, da hatten die Nazis ganze Arbeit geleistet, war seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs öffentlich weitgehend vergessen. Daran etwas geändert zu haben, könnte das Verdienst des Museums Ludwig in Köln werden, das Freundlich derzeit eine große Retrospektive unter dem Titel „Kosmischer Kommunismus“ widmet – mit 80 Exponaten aus vieler Herren Länder.
Auch Gerhard Richter hat in verschiedenen Perioden seines Schaffens immer wieder Abstraktes von großer Ruhe und Ausstrahlung sowie mit erheblicher assoziativer Induktionspotenz gegenüber dem Betrachter auf die Leinwand gebannt. Man denke nur an seine rot, gelb, blauen Gemälde für BMW aus den Jahren 1970–73, an sein „Geäst“ von 1988 oder seinen „Fels“ von 1989.
Momentan zeigt das Museum Ludwig Richters abstrakte Jahresproduktion von 2016 – insgesamt 26 groß- und mittelformatige Bilder, die in ihrer knallbunten Farbigkeit durchweg so expressiv und nervös wirken wie sie in ihrer schieren Menge und nicht zuletzt ihrer gedrängten Hängung wegen sterbenslangweilig sind. Massenware – quasi wie vom Fließband.
Gottseidank finden sich in benachbarten Räumlichkeiten zu dieser Exposition aus den Dauerbeständen des Museums zahlreiche Werke Richters, die einen weiten Überblick über dessen Schaffen bieten – so etwa „Ema (Akt auf einer Treppe)“ von 1966, das Richters damalige Frau zeigt. Oder seine „48 Portraits“ in fotorealistischer Manier, mit denen er 1972 an der Biennale in Venedig teilgenommen hatte. Diese Werkgruppe zeigt (ausschließlich männliche) Persönlichkeiten, die die Moderne beeinflusst haben, und umfasst neben Komponisten und Schriftstellern auch Physiker und Philosophen.
Mitten unter diesen anderen Richter-Werken auch das kleinformatige Gemälde von 1965 „Werner Heyde im November 1959, als er sich den Behörden stellte“. Dazu – im Gegensatz zu vielen anderen Exponaten Richters im Museum Ludwig – kein erläuterndes Wort, keinerlei museumspädagogische Handreichung. Wer von den Betrachtern mag mit diesem Sujet etwas anfangen können? Wer sich daran erinnern, dass Werner Heyde (alias Fritz Sawade) in der alten Bundesrepublik zu jenen Naziverbrechern gehörte, die (in diesem Falle wegen verantwortlicher Beteiligung an sogenannten Euthanasie-Morden) steckbrieflich gesucht wurden? Und zugleich zu jenen, die in keinem südamerikanischen oder nahöstlichen Exil untertauchen mussten. Netzwerke alter Kameraden an Schaltstellen des neuen Staates ebenso wie ein allgemeines Klima des Bagatellisierens, Verschweigens und Verdrängens ermöglichten es ihnen, unbehelligt in der Bundesrepublik zu leben und sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Im Falle Heydes als Sportarzt und Gerichtsgutachter. Erst 1959 flog er auf. Der Spiegel resümierte später: „Zwölf Jahre lang – von 1947 bis 1959 – überboten sich Deutsche gegenüber einem Deutschen, der steckbrieflich gesucht wurde, in praktischer Nächstenliebe. […] sie verhalfen ihm zu neuem Ausweis, zu Amt und Ansehen: dem ehemaligen Leiter der ‚Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten’, Professor Werner Heyde – verantwortlich für den Tod von mindestens 80 000 Geisteskranken.“
Gerhard Richter griff, und auch das wäre mitteilenswert für Museumsbesucher, das Thema auf, weil seine Tante Marianne ein Opfer des NS-Euthanasieprogramms war. Es gibt, ebenfalls von 1965, ein Richter-Porträt von dieser Tante als Teenager – zusammen mit dem Maler selbst. Der war da noch ein Baby.
„Otto Freundlich. Kosmischer Kommunismus“, Museum Ludwig, Köln; noch bis zum 14. Mai 2017; weitere Informationen im Internet.
„Gerhard Richter. Neue Bilder“, noch bis zum 1. Mai 2017; weitere Informationen im Internet.
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