von Mathias Iven
Als der Philosoph Moritz Schlick seinen Rostocker Studenten im Wintersemester 1912/13 einen Überblick zu der für seine Nietzsche-Vorlesung relevanten Literatur gab, empfahl er auch die Lektüre der Biographie von Friedrich Nietzsches Schwester. Allerdings wies er einschränkend darauf hin, dass sie „noch viel wertvoller [hätte] sein können, wenn Frau Förster-Nietzsche die geeignete Persönlichkeit gewesen wäre, ihren Bruder voll zu verstehen“. Das Buch zeige, dass ihr die Gedankenwelten ihres Bruders verschlossen blieben „und dass die Teilnahme an seinem Leben eine zwar wichtige, aber doch äusserliche war“. Fazit: „Da sie also das innerste Wesen ihres Bruders nicht eigentlich verstand und nicht unparteiisch Menschen und Erlebnisse zu beobachten und zu beurteilen verstand, so muss man die Stellen der Biographie sehr kritisch betrachten, in denen sie die erzählten Ereignisse deutet, interpretiert und bewertet.“ – Ein hartes Urteil. Immerhin wurde ihr als erster Frau die Ehrendoktorwürde der Universität Jena verliehen und manche Zeitgenossen hielten sie sogar für so bedeutend, dass man sie insgesamt drei Mal für den Literaturnobelpreis vorschlug. Doch wer war diese Frau?
Kerstin Decker hat sich dieser Frage angenommen. Wohl vertraut mit Nietzsche und dessen Umfeld – vor einigen Jahren hat sie eine Biographie der Lou Andreas-Salomé vorgelegt und sich im Anschluss daran mit der „Hassliebe“ zwischen Nietzsche und Wagner beschäftigt (Das Blättchen, Sonderausgabe, 11. Februar 2013) –, zeichnet sie den Lebensweg der Elisabeth Förster-Nietzsche in all seiner Widersprüchlichkeit nach. Ihr Buch ist zwar nicht die erste Arbeit über Nietzsches Schwester, aber die bei weitem umfangreichste, in weiten Teilen ausschließlich auf Archivmaterialien basierende.
Wie die Eingangsbemerkung zeigt, gab es schon sehr früh kritische Stimmen, die die Art und Weise von Elisabeths Bemühungen um die Veröffentlichung von Nietzsches Nachlass hinterfragten. Von Weglassungen und Fälschungen war die Rede. „Die Schwester ist schuld!“ Diese Behauptung, oder sagen wir dieses Vorurteil, steht bis heute im Raum. Sicher, sie mag Schuld haben. „Aber woran genau?“ Schon im ersten Band ihrer Biographie über den Bruder findet sich, in Klammern gesetzt, der Satz: „Das Verbrennen alter Briefe und werthvoller Manuscripte ist vielfach in unsrer Familie vorgekommen, es war der Exceß der Nietzschischen Ordnungsliebe und Discretion.“ Und wie eine Rechtfertigung ihres zukünftigen Wirkens heißt es weiter: „Das war die Familienempfindung, nach welcher manches Glied handelte – leider auch mein Bruder.“ So sollte sich also das Fehlen mancher Aufzeichnungen erklären. Schwerer jedoch wiegt der Vorwurf der „Fälschungen“. Es geht dabei vor allem um ein Werk.
1887, am Ende der ersten Auflage von „Zur Genealogie der Moral“, verkündete Nietzsche bereits den Titel seines nächsten Buches: „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe“. Überlegungen dazu gab es schon länger. Zwei Jahre zuvor hatte er notiert: „Unter dem nicht ungefährlichen Titel ,der Wille zur Macht‘ soll hiermit eine neue Philosophie, oder, deutlicher geredet, der Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens zu Worte kommen.“ Und in der 1886 erschienenen Schrift „Jenseits von Gut und Böse“ wurde ausgeführt, dass die Philosophie „immer die Welt nach ihrem Bilde [schafft], sie kann nicht anders; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur ,Schaffung der Welt‘, zur causa prima“.
Elisabeth wird die Entstehungsgeschichte anders erzählen. Sie wird behaupten, dass ihr Bruder den Gedanken des Willens zur Macht im Sommer 1870 während seines Einsatzes als Sanitäter auf dem Schlachtfeld von Metz gefunden habe. Die endgültige Konzeption und den Titel des Buches teilte er ihr in einem Brief vom 17. März 1887 mit. Nur schade, dass dieser Brief offenbar nie existiert hat. Doch wie kam Elisabeth überhaupt auf den Gedanken, ein nie geschriebenes Buch herauszugeben? Kerstin Decker fasst die relativ verworrene Entstehungsgeschichte mit den Worten zusammen: „Wenn Nietzsche also kein Werk dieses Titels geschrieben hat, ist er entlastet. Wenn seine Schwester dennoch ein Werk dieses Titels herausbringt, ist sie belastet.“ – Elisabeth, die Fälscherin? Mit Blick auf die Unmöglichkeit, zur damaligen Zeit eine unseren heutigen Maßstäben genügende historisch-kritische Gesamtausgabe auf den Weg zu bringen, fragt Decker am Schluss ihres Buches: „Dürfte man nicht auch so formulieren: Elisabeth half, sie vorzubereiten –?“
Befassen wir uns noch etwas näher mit der Wirkungsgeschichte von Nietzsches als „Hauptwerk“ geplanter, doch nie ausgeführter Schrift. In seiner jüngst erschienenen „Streitschrift“ unterscheidet der Germanist Jochen Schmidt, der bis 2015 die Forschungsstelle „Nietzsche-Kommentar“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften geleitet hat, strikt zwischen dem vermeintlichen Hauptwerk und der gedanklichen Konzeption eines „Willens zur Macht“. Dementsprechend stellt er zunächst das von Nietzsche „bewusst als Schlagwort lancierte und durch den Nietzsche-Kult ikonisierte Werkphantom“ dar und analysiert im Anschluss daran „das konzeptionelle Scheitern des damit verbundenen philosophischen Anspruchs“.
Im Vorwort zu der unter der Ägide der Schwester von mehreren Mitarbeitern angefertigten Erstausgabe von 1901, allerdings auch nur in dieser, verwies Elisabeth Förster-Nietzsche auf mancherlei Unsicherheiten und das Provisorische der Zusammenstellung. Zudem wurde das „Unfertige“ des Bandes durch den Titelzusatz „Studien und Fragmente“ herausgestellt.
Fünf Jahre später war man offenbar sicher, dass nunmehr alle relevanten Aufzeichnungen zusammengetragen waren. Sichtbar wurde das vor allem am Umfang der Neuauflage: Enthielt die Erstausgabe lediglich 483 Notate, so fanden sich in der Fassung von 1906 (wie sie im Kröner Verlag noch immer lieferbar ist) insgesamt 1067 Texte. Ernst Horneffer, 1899 bis 1901 Mitherausgeber von Nietzsches Nachlass, hob in seiner 1907 veröffentlichten Studie „Nietzsches letztes Schaffen“ außerdem hervor: „Das Schlimmste war, daß Frau Förster-Nietzsche unsere Einleitung, die eine genaue Darstellung von Nietzsches Arbeitsweise enthielt, unterdrückte und durch eine eigene, völlig inhaltslose ersetzte. Was brauchten die Leute“, so fragte er, „über die Arbeitsweise ihres Bruders zu erfahren?“
Schmidts Untersuchung dieser Arbeitsweise zeigt Nietzsche, „der sich als bahnbrechendes Originalgenie ausgab, als Kompilator und Plagiator, der seine Quellen meistens verschwieg“. Goethe, Schiller oder Euripides wurden von ihm „zu Unrecht zitiert, um ihre Texte nach seiner Intention zu modeln“. Er manipulierte die griechischen Mythen, und sein Missverständnis von Darwins Evolutionslehre ist letztendlich „auf mangelnde Kenntnis der Texte zurückzuführen“.
Wie sich der „Wille zur Macht“ einen Weg in unser gesellschaftliches Bewusstsein gebahnt hat, zeigt Schmidts Ausblick auf Hauptwerke der literarischen Wirkungsgeschichte. Da ist zunächst Franz Kafka, der schon als Gymnasiast begeisterter Nietzsche-Leser war. Exemplarisch wird anhand von dessen Erzählungen „Beschreibung eines Kampfes“ und „Das Urteil“ der zeitlebens wirkende Einfluss Nietzsches dargestellt. Von „einer tief zwiespältigen Nietzsche-Rezeption“ zeugt Musils „Mann ohne Eigenschaften“, der die satirische und ideologiekritische Auseinandersetzung mit dem um die Jahrhundertwende florierenden Nietzscheanismus in das Zentrum der Clarisse-Handlung stellt. Und schließlich betrachtet Schmidt das Werk Thomas Manns, der Nietzsches philosophischen Ansichten durchaus „skeptisch distanziert“ gegenüberstand, was ihn nicht daran hinderte, dessen Schriften unter dem Aspekt der „Materialverwertung“ seinem eigenen Schreiben dienstbar zu machen.
Schmidt beschließt seine Ausführungen mit einem Kapitel über die Rolle des „Willens zur Macht“ im Zeitalter des Imperialismus und Faschismus. Er geht darin speziell auf die vom „Zarathustra“ ausgehende Kriegspropaganda deutscher Intellektueller und „Katheder-Helden“ ein. Gewiss kann Nietzsche nicht unmittelbar für das in dieser Zeit Geschehene verantwortlich gemacht werden. Dennoch bleibt festzuhalten, so Schmidt, dass das Radikale in Nietzsches Aufzeichnungen zwar einerseits durch die seit 1880 zunehmenden „Wahnsinnsschübe“ beeinflusst sein mag, andererseits jedoch nahm Nietzsche „mit seinem ,Willen zur Macht‘ nur die zeitgenössischen Tendenzen des Imperialismus und einer biologistisch und rassistisch deformierten Welterklärung“ auf.
Kerstin Decker: Die Schwester. Das Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche, Berlin Verlag, Berlin 2016, 656 Seiten, 24,00 Euro.
Jochen Schmidt: Der Mythos „Wille zur Macht“. Nietzsches Gesamtwerk und der Nietzsche-Kult – Eine historische Kritik, de Gruyter, Berlin/Boston 2016, 191 Seiten, 109,95 Euro.
Schlagwörter: Elisabeth Förster-Nietzsche, Friedrich Nietzsche, Jochen Schmidt, Kerstin Decker, Mathias Iven