20. Jahrgang | Nummer 3 | 30. Januar 2017

Revolutionsgeschichte staatsmännisch

von Stefan Bollinger

Nachfolger haben es schwer, sich Erbe und Traditionen ihrer Vorgänger zu stellen. Zumal dann, wenn der neue Staat den Übergang zu einem anderen Eigentums- und Wirtschaftssystem bedeutet – zum Kapitalismus. Dennoch, der sowjetische Staat, dessen Wirtschafts- und Lebensverhältnisse wirken nach. Für die neuen Führer seit 1991, wohl auch schon für den späten Gorbatschow, war es zunehmend schwierig, mit dieser Vergangenheit zurechtzukommen. Mit Boris Jelzin begann die kritiklose Ausrichtung an den einstigen westlichen Gegenspielern. Kapitalismus sollte schocktherapeutisch in die bis dato realsozialistische, gelegentlich noch kommunistisch-gleichmacherische und damals oft einfach anarchische Gesellschaft eingepflanzt werden. Es blieb letztlich frühkapitalistisches Piratenwesen, in dem einstige Funktionäre geplant, spontan und/oder verbrecherisch sich bisheriges Volks-, genauer Staatseigentum unter den Nagel rissen.
In dem Moment, da eine Führung dieses zerstörerisch-konstruktive Chaos zu beenden trachtete, eine neue staatliche Ordnung mit einer starken Zentrale anstrebte und die Russländische Föderation wieder zur Großmacht aufsteigen lassen wollte, musste sie auch mit der Geschichte ins Reine kommen. War in Perestroika- und Jelzin-Zeit das schonungslose Abrechnen mit der kommunistischen Vergangenheit das Topthema, so war nun ein umfassender Neuansatz erforderlich.
Unter Wladimir Putin begann eine Neuinterpretation der Jahre zwischen 1917 und 1991. Der traditionelle Oktoberrevolutionsfeiertag am 7. November verschwand 2005 in der historischen Versenkung, um unter neuen Vorzeichen als „Tag der Einheit des Volkes“ nun alljährlich drei Tage früher, am 4. November, wiederzukehren. Er griff die Tradition des 1649 eingeführten Tages der Ikone der Gottesmutter von Kasan auf, zur Erinnerung an das Jahr 1612, als russische Aufständische polnische Eroberer aus Moskau verjagten.
Russlands November-Feiertag wurde also „nationalisiert“, der Bezug auf jene internationalistische Revolution mit ihrem Gleichheits- und Demokratieanspruch kassiert. Dafür diskutiert man noch, ob endlich der einbalsamierte Leichnam Lenins der Erde übergeben werden sollte; die 1918 erschossene Zarenfamilie ist von der Russisch-Orthodoxen Kirche längst heiliggesprochen.
Die heutige Führung will bezüglich der Geschichte clever sein. Einerseits kann und will sie diese nicht gänzlich verleugnen, ist doch das heutige russische Staatswesen in erheblichem Maße eine Fortsetzung des sowjetischen Staates als Groß- und Supermacht, ungeachtet seines Scheiterns. Zum anderen aber muss sie die klassenmäßigen Ursachen der Ereignisse von 1917 ignorieren. Denn sonst müsste sie den kapitalistischen Charakter der heutigen Ordnung, die Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm, als genauso revolutionserheischend anerkennen. Die Mission des Oktober ‘17 jedenfalls ist wieder aktuell und nicht erfüllt.
Die heutige defensive Sicht der Moskauer Führung auf die Oktoberereignisse ist eng verwoben mit der berechtigten Furcht vor „bunten Revolutionen“: Das heißt, mit jener besonderen Verbindung zwischen hausgemachten sozialen und politischen Konflikten und der Einflussnahme westlicher Mächte darauf, um genehmere Regimes zu installieren.
Darum ist die oberste Parole für das Revolutionsjubiläum 2017: Versöhnung und Russland zuerst. Putin ließ es sich nicht nehmen, in seiner Grundsatzrede zur Lage vor der Föderationsversammlung im Dezember 2016 selbst die Orientierung vorzugeben. Der Jahrestag sei „ein guter Moment für den Blick zurück auf die Ursachen und die Natur dieser Revolutionen in Russland … Die russische Gesellschaft braucht im Allgemeinen eine objektive, ehrliche und tiefgreifende Analyse dieser Ereignisse.“ Es gehe um ein gemeinsames Erbe. Putin mahnte: „wir brauchen die Lektionen der Geschichte in erster Linie zur Versöhnung und für die Stärkung der sozialen, politischen und zivilen Eintracht, die wir erreichen konnten. Es ist inakzeptabel, Groll, Zorn und Bitterkeit der Vergangenheit in unser Leben heute zu übertragen und bei der Suche nach den eigenen politischen und anderen Interessen auf Tragödien zu spekulieren, die praktisch jede Familie in Russland betraf, egal auf welcher Seite der Barrikaden unsere Vorfahren standen. Lasst uns erinnern, dass wir ein einziges Volk, ein vereintes Volk sind, und dass wir nur ein Russland haben.“
Den Ausweg aus diesen Widersprüchen und die Begründung für die Politik des Wiederaufstiegs nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Demütigung durch den Westen sieht die Moskauer Führung im Beschwören des einzigen und ewigen Gedankens eines russischen Staatswesens. Das hat, so der Kern dieses Konstrukts, trotz aller Wirren und Kriege, trotz Katastrophen und Revolutionen Bestand. Es verkörpert eine tausendjährige Tradition, und die heutigen Politiker und Militärs tragen es in der Gegenwart.
In einer Grundsatzrede 2015 gab Kulturminister Wladimir Medinski eine von allen klassenmäßigen Betrachtungen abgehobene Sichtweise auf die Revolution vor. Er wandte sich gegen Vereinfachungen und Mythen. „Roter“ wie „weißer“ Terror seien historische Tatsache. Jedoch: „Ist die Februar-Revolution ein Verbrechen? Oder die Oktober-Revolution – ein Verbrechen?“ Er bezweifle, dass dies mit juristischen Normen zu bewerten sei, und erinnerte daran, dass heute der Sturz des Zaren als Resultat englischen Geldes oder der Erfolg der Bolschewiki als mit deutschem Geld erkauft dargestellt werde. Dabei stellte er einen Zusammenhang zu den Ereignissen auf dem Maidan 2014 her. Letztlich ginge es aber um die Verbundenheit der jeweiligen Regierung mit ihrem Volk.
Heute brauche es, so Medinski weiter, keine „Versöhnung zwischen ‚weiß‘ und ‚rot‘“ als den wichtigsten Teilnehmern an Revolution und Bürgerkrieg vor einem Jahrhundert. „‚Rot‘ und ‚weiß‘ sind in diesem Fall ein Symbol, … und alle Revolutionäre, Subjekte der Wirren, der Katastrophe des russischen Staates in der Romanov-Version.“ Letztlich wollten sie unter unterschiedlichen ideologischen Vorzeichen nur die Wiederherstellung des russischen Staates. Der Kulturminister formulierte den von ihm entdeckten tieferen Zusammenhang folgendermaßen: „Die Logik der Geschichte ist so, dass sobald jemand in Russland begann, die Ordnung wiederherstellen und das Chaos zu stoppen, unabhängig von seinen Plänen und Wünschen … am Ende immerhin ein russischer Einheitsstaat, als UdSSR bekannt, herauskam.“ Hier kann er die Leistungen auch der Bolschewiki anerkennen, nicht zuletzt die ihrer Staatswerdung und des Sieges 1945. Medinski fasste zusammen: Auf „die Frage ‚Wer hat den Bürgerkrieg gewonnen?‘, werde ich jetzt sagen, ironischerweise eine dritte Kraft, die nicht im Bürgerkrieg teilnahm – es gewann das historischen Russland. Russland, das es tausend Jahre vor der Revolution gab, und auch weiterhin. Und jetzt sehen wir, wie selbstbewusst Russland seine historischen Rechte immer wieder in unserer Geschichte wahrte.“
Naturgemäß steht und fällt das Rückerinnern der heutigen Führung auf 1917 mit der Frage nach dem eignen Nutzen für heutige Politik. Klassenkampf ist für eine Gesellschaft, in der staatskapitalistische Strukturen mühsam einen Oligarchenkapitalismus wieder eingehegt haben, in der aber die wirtschaftliche Modernisierung sich sehr langsam vollzieht und auf die die Wirtschaftssanktionen des Westens einwirken, problematisch.
Gerade Linke vermeiden es allerdings auffällig, diesen modernen, zeitgenössischen russischen Staat überhaupt als kapitalistisch, ja imperialistisch zu bezeichnen. Denn sie sehen in ihm, sehen in Putin ein ideales Korrektiv gegen die bestehende US-dominierte Weltordnung und sind wohl nostalgisch versucht, das heutige Russland als noch geprägt durch die Oktoberrevolution zu betrachten. Das verkennt allerdings die Tiefe des Umbruchs, der sich seit Ausgang der 1980er Jahre zunächst unter Perestroika-Vorzeichen und dann in den 1990er Jahren unter der Ägide Jelzin, seiner neoliberal angehauchten russischen Wirtschaftsexperten und westlicher Berater vollzogen hat.
Anzumerken bleibt, dass die damalige Friedenssehnsucht als zentraler Antrieb für die Revolutionen des Jahres 1917 bei heutigen russischen Politikern keine merkliche Rolle spielt.

Vom Autor erscheint im Frühjahr in der Eulenspiegel-Verlagsgruppe „1917 – Revolution gegen den Krieg. Skizzen zu Geschichte und Aktualität der Russischen Revolutionen 1917-1922“ (Arbeitstitel).