von Herbert Bertsch
Der sinnig schwarz eingefärbte Umschlag von „Der schwarze Juni“ und der in Signalrot von „Deutschland gehört auf die Couch!“ umfassen inhaltlich Materialien gegenwärtiger Gesellschafts- und Staatskonzeptionen in und für Deutschland, bei beiden verbunden mit alternativen Vorstellungen zur praktischen Politik. Das ist auch angewandte Wissenschaft von Ökonomie und „Überbau“ mit Zweck und Ziel unmittelbarer Einflussnahme auf die deutschen Geschicke auch im Umfeld; aus Sorge, wie es heißt. Wohl auch als Konkurrenz zu anderen handelnden Personen, mit und ohne Konzept, Selbstdarstellung einbegriffen.
Um es vorweg zu sagen: Im Hintergrund, in Sonderheit bei der Empfehlung zur psychiatrischen Behandlung, geht es auch um die AfD mit ihrer Selbstsicht und dem Kernanspruch, die wahre und damit bessere CDU zu sein; aber nicht auf diese Partei, diese Bewegung fokussiert. Hauptanliegen ist das große Unbehagen von Staatsbürgern gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit als Kurs der Kanzlerin mit der Konsequenz, dies müsse geändert, vielleicht reformiert werden. Zumal die Autoren dieses Werkes vermittels der Wahlerfolge der AfD jetzt im Europäischen Parlament sitzen. Inzwischen sind sie wieder aus der eigenen Partei ausgeschieden, statt dessen Gründungsmitglieder von Alfa, einer Ausgründung der sogenannten Professorengruppe, die sich von der Parteipraxis der AfD absetzt und auch so gesehen und verstanden werden will.
Was wiederum der Allianz aller sonstigen demokratischen Parlamentsparteien signalisieren müsste: Selbst die erfolgreiche Ausgrenzung und Ablehnung der AfD wäre nicht die Lösung des Problems, das gegenwärtig nicht nur die Parteienlandschaft in Deutschland verändert hat. Es ist objektiv nicht nur ein Kommunikationsproblem der derzeit Deutschland beherrschenden Fraktion der Bourgeoisie mit ihrem unverständigen Staatsvolk. Es geht um die Auseinandersetzung, was und wie ein erneuerter, moderner Kapitalismus sein muss, um nicht das ganze Weltsystem … zu gefährden. Und deshalb ist es auch wiederum nicht nur eine deutsche Angelegenheit. Damit zur Botschaft der Bücher.
Fassen wir den in beiden Werken ähnlichen Befund über den gesellschaftlichen Zustand etwa so zusammen: Gestern noch standen wir vor dem Abgrund, heute sind wir schon einen Schritt weiter. Das gilt für beide Werke, deren Erscheinen zugleich ankündigt, demnächst werde es dazu von Äußerungen nur so wimmeln, ob das gegenwärtige Politikprojekt „Deutschland“ innen und außen, in Realität und ebenso Interessen gesteuerter Wahrnehmung wirklich „alternativlos“ sei. Falls ja, wäre es in sich konsequent, dass Merkel-CDU und Gabriel-SPD ihr Einheitslisten-Prinzip weiter verfolgen „müssen“ – weil man in dieser Lesart nur so dem selbstverschuldeten innenpolitischen Desaster und der bereits bestehenden und galoppierend zunehmenden außenpolitischen Isolierung infolge von Großmachtambitionen und altruistischem Mäzenatentum entgehen könne. Alles andere demnach falsch und störend.
Und genau dazu sagen der wohl am häufigsten und immer gegenwärtige Ökonom Hans-Werner Sinn, wie der ehemalige Deutschlandmanager von IBM und BDI-Chef Olaf Henkel und, sein Kollege als Europa-Abgeordneter, Professor Joachim Starbatty unmissverständlich kämpferisch: Nein, so geht das nicht. Und sie lassen es nicht dabei bewenden, sondern transportieren Alternativen in die gesellschaftspolitische Diskussion. Einen Praxistest haben beide Wortmeldungen, die etwa zeitgleich vorlagen, schon überstanden – das „Trump-Syndrom“. Obgleich kurz vor dessen Wahl erschienen, müssten diese Bücher deshalb nicht umgeschrieben werden. Wohl anders etwa ergeht es dem Staatshistoriker Winkler mit seinem „deutschen Weg nach Westen“ den er als unumkehrbare größte deutsche Errungenschaft charakterisiert hat, seinerzeit von der damit gelobhudelten Bundestags-Mehrheit heftig beklatscht. Und nun die Klatsche von der übermächtigen Großmachtkonkurrenz: Wer seid ihr denn?
Noch gilt, dass der Hund mit dem Schwanz wackelt, auch wenn manche in Deutschland trutzig meinen, man könne es umgekehrt probieren. Das hat grundlegende Konsequenzen für das existenzielle Selbstverständnis bei den deutschen Eliten, vornehmlich den politischen Geschäftsführern des großen Kapitals in der Regierung. Die globalisierten Weltunternehmen tangiert das höchstens. Nehmen wir nur mal einen Aspekt, auch in den Werken substanziell ökonomisch untermauert. Allein schon die Ankündigung höherer Schutzgebühren der NATO als Konsequenz für den Fall weiterer Herausforderungen an Russland. Nehmen wir mal diese Version ernst: Wenn die USA, Großbritannien und, ganz akut, auch Frankreich als Staaten oder neue EU-Teilgemeinschaft ihr Verhältnis zu Russland novellieren (würden) – wer bliebe auf den Sanktions- und Missionierungskosten wohl sitzen? Die „Baltikuaner“ werden das ja wohl nicht sein, wenn die Rechnungs-Begleichung auch dafür ansteht. Eine solche Situation hatte man wohl nicht auf der Haushaltsliste.
Man kann allerlei Bitternis aus den beiden Werken herauslesen. Aber die kritische Bestandsaufnahme lässt sich nicht mit dem Urteil herabwürdigen, da wollen nur andere ran. Immerhin können sie dafür allerlei aus der bundesdeutschen Geschichte anführen, auch wenn es scheinbar die alte, nichts destotrotz falsche Historikerweisheit zu bestätigen scheint „Männer machen die Geschichte“. (Und damit ist nicht nur der „gender status“ gemeint).
Da war die ideologisch antikommunistisch begründete Fehleinschätzung, deutsche Interessen wären mit europäischen identisch. Welche wären das, wenn alle „Europäer“ (auch die Russen, oder entsprechen diese nicht dem Standard, wie seinerzeit von Bonn verkündet wurde?) versuchen, unter diesem Rubrum „das Beste“ national für sich herauszuholen? Kurzzeitig erschien das für Deutschland erfolgreich. Da war der „freie Fluss von Kapital und Information“, vermittels Gorbatschow/Jelzin Russland eingeschlossen. Da hatten die großen Unternehmen was davon und auch die Özdemir-Grünen konnten, wie etwa mit Frau Beck, ihren alternativlosen Wertekatalog selbst in Moskau verbreiten. Dann der Rückstoß – noch mit open end. Alle Aktivitäten stets als alternativlos erklärt, die inkonsequente Politik des Herrn Schulz in Brüssel und eben der dauerhaften Groko in Berlin eingeschlossen.
Und das musste und muss wirklich so sein, fragen die Autoren, mit der Antwort: Mitnichten war alles alternativlos und auch nicht unvorhersehbar, wie jetzt als Ergebnis geendet. Dafür dies (eines von zahlreichen) Beispiel von Sinn: Da war das Gezerre um Griechenland, durch Deutschland auch im Interesse seiner Banken veranstaltet, mit dem Dictum, Griechenland dürfe um keinen Preis im Sinne des Wortes, aus der EU herausfallen, auch weil die NATO diese Position unbedingt gegen Russland brauche. Letzteres wird öffentlich fast überhaupt nicht wahrgenommen, bedingt aber vieles. Nun ist Griechenland weiter als Zahlungsempfänger im Verbund, aber die Briten sind abhandengekommen. Und die deutsche Bewertung dessen? Halb so schlimm, verkraften wir, obgleich die Briten wie die Deutschen in den Topf Nettoeinzahler waren und sind, für dessen Inhalt Merkel-Deutschland (immer in Symbiose mit der SPD-Führung zu verstehen) die Haftung übernommen hat! Das ist neben dem Brexit das große Thema in dem Werk: Die Herstellung einer europäischen Haftungsunion, zusätzlich per deutscher unabhängiger Gesetzgebung festgeschrieben. Die Regierung muss nicht so, wie sie macht: Aber sie darf, wie sie es macht.
Und wie kam diese Regierung eigentlich zustande? Schließlich hatte jeweils etwa die Hälfte der Wähler eine „reine“ CDU dafür gewollt, die andere eine „reine“ SPD, eventuell um Grüne und „DIE LINKE“ angereichert. Bekommen haben alle Frau Merkel. Wohl zu Recht fragen die Autoren … mit heftigem Echo vom „Volk“: Wo bleibt da eine handlungsfähige Opposition als verkündetes Lebenselixier der Demokratie? Gilt nicht in schweren Zeiten, hat Frau Merkel jüngst befunden. Unsere Autoren bieten auch andere Programme.
Nein, diese Alternativprogramme kommen weder von linken Positionen noch sind sie vom Himmel herabgebetet. Es gibt nur wirklich keine eherne Verpflichtung, alles müsse so weiter gemacht werden, weil schon lange so gemacht. Dass die Autoren einander kennen – da in verhältnismäßig gleicher Sozialisation ist dies wahrscheinlich aber keineswegs notwendig. Die Umstände drängen nach Veränderung.
Den beiden Büchern ist hinsichtlich der Entstehung gemeinsam, dass es sich um sogenannte Schnellschüsse handelt, was der Substanz nicht abträglich sein muss. Politisch gezielt wird auf das Abwerfen der durch Frau Merkel charakterisierten Konzeption für Deutschland. Und die Absicht kommt mitten aus der Bourgeoisie, eigentlich sogar aus einer CDU, wie sie mit dem Programm der sozialen Marktwirtschaft und der „formierten Gesellschaft“ zu Erhards Zeiten geplant und verfolgt wurde. Das Alternativprogramm aus diesen Kreisen ist also wirklich Fleisch von diesem Fleische und wirft nicht nur nebenbei die Frage auf, wer sind die eigentlichen Populisten? Möglicherweise umgekehrt doch jene, die ständig nach demoskopischer Marktlage agieren um dranzubleiben, oder jene, die anstatt des „Weiter so“ es ganz anders machen wollen. Ob sie das wirklich können und/oder auch nur in bester Absicht wollen muss hier nicht entschieden werden. Hervorzuheben aber ist jedenfalls, dass es hier nicht nur um materialreiche Befunde geht, sondern um Lösungsvorschläge auch jener Fehlorientierungen, die diese Autoren nicht zu verantworten haben. So finden sich als Quintessenz bei Sinn „ein 15 Punkteplan zur Neugründung Europas“ – eine Art „Zehn Gebote“ – und bei Henkel/Starbatty nicht nur Verweise, was gemacht werden müsste, sondern auch um der Vorschlag, wer das könnte. Merkel=CDU – das muss nicht sein, meinen diese profunden Kenner der deutschen Gesellschaft und ihrer politischen Herrschaftsparteien dezidiert.
Für die Autoren trifft etwas zu, was bei abwertenden Besprechungen gegen sie verwendet wird, wie „Die Wut der alten Männer auf Angela Merkel“ in Welt N24 vom 12. September 2016: Das wären doch unbedeutende Hirngespinste von über 70-Jährigen. Dazu möchte ich mal was auch in eigener Sache sagen dürfen, und das geht so: Der auch von Frau Merkel in Anspruch genommene Urvater von allen, Konrad Adenauer, war bei erstem Amtsantritt 73 Jahre alt und betrieb das Geschäft direkt 15 weitere Jahre, Bundeskanzler Kohl hatte eine noch längere Regierungszeit. Adenauer wirkte, nach dem Wort des damaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, höchst antinational als „Bundeskanzler der Alliierten“. Das waren noch Zeiten, wäre auch ein lehrreiches Thema! Na ja.
Es gibt jedenfalls substanzielle alternative Konzepte für ein überlebensfähiges kapitalistisches Deutschland in und mit Europa, wie hier dargelegt. Das ist für alle geeignet, die ihre Materialbasis in dieser Richtung erweitern wollen und Anregungen suchen, was man der beschworenen Alternativlosigkeit im System entgegensetzen kann, kein anderes System. Muss daher keineswegs als eigene Handlungsanweisung verstanden werden. Handlungsbedarf gibtʼs reichlich.
Hans-Werner Sinn: Der schwarze Juni – Brexit, Flüchtlingswelle, Euro-Desaster – Wie die Neugründung Europas gelingt, Herder-Verlag, Freiburg 2016, 368 Seiten, 24,99Euro.
Hans-Olaf Henkel / Joachim Starbatty: Deutschland gehört auf die Couch! Warum Angela Merkel die Welt rettet und unser Land ruiniert, Europaverlag, Berlin-München-Zürich-Wien 2016, 254 Seiten, 19,90 Euro.
Schlagwörter: AfD, CDU, Deutschland, Hans Werner Sinn, Hans-Olaf Henkel, Herbert Bertsch, Joachim Starbatty, moderner Kapitalismus