19. Jahrgang | Nummer 26 | 19. Dezember 2016

Die rechte Revolution

von Stephan Wohanka

„Die Republik, die man glaubt verteidigen zu müssen, gibt es nicht mehr. Ihre damaligen Angreifer herrschen heute – ideell, politisch, medial. Die Zerstörung der verfassungsmäßigen Ordnung wurde systematisch betrieben; in den USA war das nicht anders. Das wurde jetzt mit Trumps Wahl korrigiert; sie verhindert zumindest dort, dass Rechtsstaat und Demokratie einem neuen Totalitarismus zum Opfer fallen. Not wendend ist eine konsequente Konter-Revolution auch hierzulande und in Europa, um die verfassungsmäßige Ordnung wieder herzustellen.“ Obwohl in Anführungszeichen gesetzt – kein exaktes Zitat, sondern die Synthese aus Äußerungen, wie sie allenthalben zu lesen sind: Trump und seine europäischen Schwestern und Brüder im Geiste sollen also die Retter von „Rechtsstaat und Demokratie“ sein, die durch einen „neuen Totalitarismus“ bedroht seien?
Die alte „Republik“ gibt es wirklich nicht mehr. Ohne in eine Diskussion darüber einzutreten, wer die waren, die die Republik „damals angegriffen haben“ – infrage kämen aus Sicht der „Trumps“ wohl vor allem die 68er und die Grünen –, ist es richtig, dass die Welt im Umbruch ist, dass eine deutliche Umwertung wenn nicht aller, so doch vieler Werte im Gange ist: Der Kollaps des sozialistischen Systems nahm dem westlichen das Korrektiv; neoliberale respektive -konservative Vorstellungen in Gestalt der Reaganomics brachen sich in der Ökonomie Bahn. Diese Entfesselung der kapitalistischen Marktwirtschaft führte zu wachsender Globalisierung, die desgleichen sprunghaft zunehmende weltweite Vernetzung und Digitalisierung bescherten uns den „Kasinokapitalismus“. Begleitet wurden diese Phänomene von einer weltanschaulichen Pluralisierung der Gesellschaft, dem Verlust des Monopols der christlichen Kirchen auf Wert- und Moralvorstellungen; der Zeitgeist wurde linker, ökologisch, urban, multikulturell, queer. Konkret kam es – nehme ich Deutschland – zur Abschaffung der Wehrpflicht, dem Ausstieg aus der Atomenergie, der Einführung der Homoehe und der Möglichkeit, Kinder zu adoptieren, dem Ausbau der Kitas … Aus Sicht Wertkonservativer ein Sakrileg größer als das andere.
Man richtete sich ein in einer bürgerlich-globalisierten Welt mit regional erzeugten Lebensmitteln, mit Sinn für Kultur, Bildung und Neugier auf das und die Fremde(n), jedoch mit wenig Interesse für Menschen in der Nachbarschaft, denen es „nicht ganz so gut“ geht, man verlor aus den Augen, dass es auch ein Leben jenseits von Walddorf-Schulen, Yogazentren und Kurztrips nach London und New York gibt. Dieses intellektuell-linksliberale Milieu wurde träge, dachte, es hätten sowieso alle alles verstanden, nichts müsse mehr erklärt werden – „werch ein Illtum“! Für frühere DDR-Bürger hatte das Ganze ob des Verlustes ihrer eingeübten politischen und sozialen Gepflogenheiten noch größere Tragweite, was bekanntlich zu einer potenzierten politischen Ruppigkeit führte. Stichwort Pegida.
Alle diese Vorgänge ereigneten sich innerhalb historisch kürzester Zeit, der Veränderungsdruck auf die Menschen war und ist hoch; nicht alle konnten und wollten ihn aushalten, geschweige denn sich in den neuen Verhältnissen zurechtfinden und sie auch noch gutheißen. Es gab und gibt Gewinner und Verlierer des Ganzen – in ökonomischer und, noch wichtiger, kultureller Dimension. Nicht wenige beklagen den metaphysischen Verlust ihres Heimatlandes, sie teilen ein Gefühl des Fremdseins im eigenen Land. Die Bürgergemeinschaft ist be- und getroffen, beleidigte Sprachlosigkeit statt Dialog.
Dieser gesellschaftspolitische Evolutionsprozess mündete jedoch nicht in einen – hier widerspreche ich dem eingangs Zitierten – „neuen Totalitarismus“, sondern in eine ausgesprochene Laissez faire-Gesellschaft: So viel Ungezwungenheit, Ungebundenheit, Gewährenlassen und Nichteinmischung war nie, im Guten wie im Schlechten. Ob das schon selbigen Totalitarismus konstituiert? Nein; es sei denn, man nähme paradoxerweise das Ungezwungene, das Ungebundene als totalitär wahr, so wie seinerzeit Herbert Marcuse die Toleranz als „repressiv“. Und von einer „Zerstörung der verfassungsmäßigen Ordnung“ mag ich auch nicht sprechen; es sei denn, man sähe in Angela Merkels Entpolitisierung der Politik – „Mutti machtʼs“, „Sie kennen mich doch“ – eine Versündigung an der Demokratie, eine Zerstörung ist das nicht.
Dass wir wieder zu mehr Gemeinsamkeiten, zu sozialem Zusammenhalt kommen müssen, halte ich für ausgemacht; der Mensch ist als soziales Wesen auf Gemeinsinn angelegt. Aber wie kommen wir zu (mehr) Gemeinsamkeiten? Wie die kulturellen Gräben überwinden, wie mehr soziale Gerechtigkeit herstellen? Vor allem wer, welche politische Kraft ist zu diesem „Kraft“-Akt fähig? Die Linke, eigentlich historisch dazu berufen, sich der Nöte Zukurzgekommener anzunehmen, ist gegenwärtig ohne Konzept, Willen und Energie, um sich dieser Aufgabe anzunehmen: „Die Barbarei kriecht nicht mehr auf uns zu, sie marschiert schon fast im Laufschritt. Auf dieses Szenario ist die Linke nicht vorbereitet – wie schon 2008“ (Michael Brie und Mario Candeias, siehe Blättchen 25/2016). In den Augen vieler ist sie selbst zur „Elite“ verkommen, da ihr politischer Fokus, wenn es etwa um die „linken“ Grünen geht, auf Minderheiten ausgerichtet ist oder die andauernde eigene Identitätsfindung das „Proletariat“ von der linken Agenda verdrängte. Sie kokettiert auch offen wie das „Team Sahra“ (Wagenknecht) mit Sprüchen wie „Weg mit den Politik-Gangstern! Wählt Sahra für eine ehrliche Politik“ mit dem Populismus. Nötig wäre eine neue, große Erzählung der Linken – und die Wiederbelebung der Gerechtigkeitsfrage, doch danach sieht es nicht aus.
Die Rechte springt ein und nimmt die echten oder vermeintlichen Verlierer, die „gewöhnlichen Menschen“ in den Fokus. Ihr Rezept: „Konter-Revolution“. Trump ist mit seinem überraschenden Wahlsieg zum Cheerleader der weltweiten „Konter-Revolutionäre“ avanciert; mit seinen Tiraden und verbalen Ergüssen („Ich könnte in der Mitte der 5th Avenue stehen und jemanden erschießen und verlöre keinen Wähler.“) hat er sich sowohl inhaltlich als auch verbal deutlich positioniert.
Wer sind die deutschen Stichwortgeber der „Revolution“? Jörg Meuthen, AfD-Kovorsitzender, bringt das oben Vermutete auf den Punkt: „Wir wollen weg von diesem links-rot-grün verseuchten 68er Deutschland.“ Der Übervater der Bewegung, Botho Strauß, hat schon 1993 in seinem Essay „Anschwellender Bocksgesang“ nationales Selbstmitleid beschworen: Wir Deutsche seien nicht „durch feindliche Eroberer herausgefordert“, sondern kämpften „nach innen um das Unsere“. Er sah eine „liberal-libertäre Selbstbezogenheit“ und einen „verklemmten deutschen Selbsthass“. Nun greift er erneut zum Wort; in „Der letzte Deutsche“ kommt es auch bei ihm zur „Flutung des Landes mit Fremden“ und weiter: „Ich möchte lieber in einem aussterbenden Volk leben als in einem, das aus vorwiegend ökonomisch-demografischen Spekulationen mit fremden Völkern aufgemischt, verjüngt wird, einem vitalen.“ Diese morbide Koketterie mit dem eigenen Lebensüberdruss ist lächerlich und skizziert eine gefährliche „Ästhetik der Restauration“.
Marc Jongen, der „Parteiphilosoph der AfD“, ist aus anderem Holz geschnitzt; er arbeitet an einer affirmativen Grundlegung der AfD. Besser als in der FAZ kann man diese theoria cum praxi nicht beschreiben: „Vom Logos-zentrierten System der sogenannten Altparteien wollen auch die AfD-Anhänger wegkommen, die sich Ende Oktober zu einem Marsch durch Magdeburg versammelten. 2000 Bürger, von denen etliche in schwarzen Bomberjacken erschienen waren, setzten dort in politische Praxis um, was Jongen im philosophischen Seminar vordenkt. Der Thymos des deutschen Volkes war dort zu hören. Zunächst recht milde mit ,Merkel muss weg, Merkel muss weg!‘-Sprechchören. Dann aus voller Kehle mit der Parole: ,Lügenpresse, Lügenpresse!‘ Auf einem Plakat hieß es: ,Die Asylanten werden verwöhnt. Das Volk wird verpönt.‘“ Das Ganze bedarf einer gewissen Erläuterung – wenn eben Philosophen am Werke sind: Nach Jongen leidet das Land an einer „thymotischen Unterversorgung“, einem Mangel an Zorn, Wut und Empörung. (So? Habe ich anders in Erinnerung.) Nichts anderes meint das altgriechische Thymos und ist so ein dritter Seelenzustand neben Logos und Eros, Vernunft und Lust.
Auf die Rückkehr zum Nationalstaat und zum Althergebrachten setzend, auf nationale Autonomie pochend, desgleichen auf eine vermeintlich autochthone Kultur mit einem Schuss ins Mystisch-Romantische, auf die Diffamierung Andersdenkender ist die „Konter-Revolution“ eine reaktionäre Bewegung. Sie bedient sich dabei häufig einer Sprache, die ihrem Anliegen Hohn spricht und allein schon auf ihr ethisches Fiasko verweist, man höre nur den Rednern von Pegida und AfD zu, aber auch Horst Seehofer. Das, was die Rechtskonservativen wollen, ist im besten Falle politischer Messianismus in Gestalt eines politischen Programms zur Herstellung eines status quo ante als Zukunftsverheißung.
Dass der Marsch der „Konter-Revolutionäre“ nicht unaufhaltsam ist, zeigt die deutliche Niederlage des Rechtskonservativen Norbert Hofer bei der Bundespräsidentenwahl in Österreich. Warten wir die Entwicklung ab.